Mittwoch, 27. April 2016

Das ist eine Premiere: Zum ersten Mal im Rahmen einer "Europäischen Kulturhauptstadt" gibt es eine Partnerschaft mit einer Metropole außerhalb der EU: Lwów alias Lwiw alias Lemberg. Den ganzen April über wirbt das Logo "LWÒWROCLAW" für Veranstaltungen, Lesungen, Vernissagen, Konzerte. Eine quasi osteuropäische Selbstverständlichkeit, stammen doch geschätzte zehn Prozent der heutigen Einwohner Wroclaws aus der Stadt in der heutigen Ukraine? Mitnichten, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sie aus dem Stalin zugefallenen Ostpolen vertrieben und nun hier angesiedelt, wo zuvor vor allem Deutsche gewohnt hatten. Linien der Massaker (Stichwort Wolhynien) und Vertreibungen, von namenlosen Elend und - dies freilich mit rasant nachlassender Vehemenz - gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Umso wunderbarer, was jetzt geschieht: Ein Erinnern, das weder selektiv ist noch in der historischen Routine-Schleife verharrt. Was z.B. im Ukrajins´kyj Zriz, einem schönen Haus am Rynek Nr. 25 und einem der meist frequentierten Veranstaltungsorte, zu sehen ist, pfeilt direkt in die Gegenwart: Exponate, Gemälde und Video-Installationen junger ukrainischer Künstler, welche die Feindbildproduktion und Mythenmacherei von heute dekonstruieren: Witzig, subversiv, ohne Didaktik, jedoch auch ohne jenes westliche "documenta"-Getue, das längst nur noch Eingeweihte zu deuten wissen. Stattdessen: Sequenzen aus dem ukrainischen und russischen Staatsfernsehen, postkommunistische Billig-Moderne, Oligarchen-Chic und ein fortgesetzter Kollektiv-Wahn, dem sich diese mutigen Individualisten selbstreflexiv entgegenstellen.

Auch wer weder polnisch noch ukrainisch spricht, sollte diese noch bis zum 5. Mai dauernde Ausstellung nicht verpassen: Kurz-Texte informieren in englisch über die Biographie und Intentionen der Künstler, die zum Teil auch aus den heute umkämpften Regionen der Ukraine stammen.  "Was kann ein Künstler während des Krieges tun?", fragt sich etwa Volodymyr Steckovych und findet eine mögliche Antwort in dieser Serie von anatomischen Wandbildern: Der Einzelne, der sich weigert, in der Masse aufzugehen.
  
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Samstag, 23. April 2016

"Welchen Plan haben Sie für Ihren Blog?" Die Frage bei der Präsentation meiner Stadtschreiber-Tätigkeit war nicht abgesprochen; ich kannte die Journalistin bis dahin nicht. Ebenso wenig wie meine spontane Antwort Ausweis überbordender Insider-Kenntnis gewesen wäre. Das passende Zitat von Witold Gombrowicz fiel mir nur deshalb ein, weil ich es einem meiner Erzählbände als Motto vorangestellt hatte: "Sie fragen, welchen Plan ich habe? Gar keinen. Ich gehe der Linien der Spannungen nach, verstehen Sie? Ich gehe der Linien der Erregung nach." Die Passage stammt aus Gombrowicz´ "Pornographie", und was in Deutschland vermutlich ein gewisses "Hoho" ausgelöst hätte, sorgte in Wroclaw nicht einmal für ein Hüsteln: Jeder im Publikum schien zu wissen, dass es in diesem Roman nämlich nicht um "das Eine", sondern um "das Andere" geht, um die immer wieder neu zu erlernende Flexibilität des Auges, die Polygamie des Blicks, den Sinn für das stets Fragmentarische der eigenen Wahrnehmung, das ambivalent Palimpsest-Artige des Geschauten. Ausschnitt statt Panorama, beobachten statt erklären. In diesem Sinne: Das wäre "der Plan".

Und was die für einen old fashioned-Autor noch gewöhnungsbedürftige Form eines Internet-Tagebuchs betrifft (die ja durchaus einer ungefilterten "Live-Show" ähneln könnte): Das schnelle Feedback hat auch Vorteile: So schreibt mir mein alter Freund, der einst nach Stasihaft nach Westberlin ausgebürgerte und nun wieder in seiner vogtländischen Heimat lebende Dichter Utz Rachowski, wie der von mir im ersten Blog-Eintrag erwähnte Wroclawer Underground-Poet hieß: Rafal Wojaczek, an den in der Ulica Mikolaja sogar eine kleine Gedenktafel erinnere. Und gewiss müsste es in der Stadt noch viele geben, die sich seiner ebenfalls erinnern. Ergo: Gerade der freischweifende Blick braucht den einen oder anderen Hinweis. Wobei mir der polnischsprechende Utz dennoch keine Hoffnung macht, die Sprache in der kurzen Zeit meines Hierseins auch nur ansatzweise zu verstehen: "Polnisch ist viel schwerer zu erlernen als einst unser gehasstes russisch, mein lieber armer Marko!"
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Dienstag, 19. April 2016





Meine Inauguration als Stadtschreiber, hoch-offiziell, aber zum Glück weder steif noch formell: Im Rathaus mit Stadtpräsidenten Rafal Dutkiewicz und Winfried Smaczny und Thomas Schulz vom Kulturforum Potsdam. Sodann eine Präsentation in der sympathischen „Bar Bara“ mit Krzysztof Maj, Direktor des Internationalen Kulturhauptstadtjahres, Stanislaw Abramik vom Künstlerresidenz-Programm "A-i-R Wro im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt 2016" " und (last but not least) meiner charmanten Übersetzerin Malgorzata Slabicka.    
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Montag, 18. April 2016

Montag, 18. 4.  
Nach meinem Erst-Besuch im Mai 2015 nun erneut in der Stadt – wiederum voller Neugier, doch diesmal quasi „offiziell“. Zu allererst die notwendigen Betuungen, um sich nun hier für fünf Monate häuslich einzurichten. (Der beste Weg, den spirit of the town zu erschnuppern.) Im Stipendiaten-Apartment im Stadtzentrum funktioniert anfangs das Internet nicht, das Büro der Hausverwaltung ist nicht besetzt – großkleine Katastrophe für einen, der doch ansonsten so froh darüber ist, vor noch der digitalen Revolution sozialisiert worden zu sein, nun aber für eine Weile ein „Blog-Autor“ sein wird. Vergessen also all der Spott über online-süchtige Nerds und asoziale Appholes, stattdessen eine milde Form der Panik. Erkannt/gemildert und schließlich aufgelöst von einer jungen Kiewerin, die nur zufällig im Büro ist, aber sofort auf polnisch telefoniert und mir dann auf englisch das neue Passwort übermittelt. (Eine deutsche Altersgenossin hätte mich wahrscheinlich mit einem pampig-korrekten „Dafür werde ich nicht bezahlt“ abgefertigt.)

Kurz darauf dann auch schon Besuch von meinem Mit-Stipendiaten Jozsef Keresztesi, einem Dichter und Essayisten aus dem ungarischen Pecs, der im gleichen Haus untergebracht ist. Wir sprechen - wiederum auf englisch - ein bisschen über die in ihren jeweiligen Ländern neumächtigen Herren K. und O., aber die Poesie und die Poeten erweisen sich doch als berührenderes Thema: Jozsef erzählt mir von einem Wroclawer Underground-Dichter, der in den siebziger Jahren Selbstmord begangen hatte und über den ich mehr zu erfahren hoffe. (Wie auch über so viele Lebende in der Stadt, die mir von deutschen und polnischen Freunden empfohlen worden sind: Die/den musst Du unbedingt treffen!)
 
Dem Rhythmus des langsamen Ankommens geschuldet, abends dann – nach dem Wiedersehen mit dem wunderbar restaurierten Rynek – eine Club-Tour der gemäßigten Art. Irgendwo dort an der Theke ein kommunikationsfreudiger Mathematikstudent, der mir sogleich erzählt, dass er das geplante neue Abtreibungsgesetz ablehne und zwar mit Verweis auf die Entscheidungsfreiheit in der christlichen Ethik – „denn selbstverständlich glaube ich an Gott“. Konklusion, so ganz ohne ein Übermaß an Piwo: Liberale Gläubige sind spannende Menschen. (Trifft man sie nur in Polen auch in Clubs?) Und bei alldem genau das gleiche Vor-Gefühl wie letztes Jahr: Sieht ganz so aus, als wäre ich in einer guten Stadt gelandet.
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