Mittwoch, 10. August 2016

Brexit in Wrocław.

Im sehr lesenswerten Deutschland-Tagebuch des polnischen Schriftstellers Stefan Chwin findet sich u.a. diese bedenkenswerte Beobachtung: Deutsche Gegenwartsautoren, die in die ehemaligen deutschen und seit 1945 polnischen Regionen reisten, würden zwar interessante und auch vergangenheitskritische Geschichten erzählen – doch immer nur einzig und allein aus ihrer Perspektive.

Chwins berechtigter Vorwurf nationaler Selbstbezogenheit ließe sich allerdings mit einem Gegen-Argument ein wenig abschwächen: Wäre es denn besser, die deutsche Gegenwartsliteratur geriere sich derart übergriffig, dass sie die polnische oder jüdische Perspektive auch gleich noch mit einnähme? Im übrigen datieren die Eintragungen aus dem „Deutschland-Tagebuch“ aus der Zeit um die Jahrtausendwende. Seither ist viel geschehen: Mehr und mehr Polen sprechen englisch, können somit „ihre Geschichten“ interessierten, des Polnischen nicht mächtigen Deutschen auch viel einfacher mitteilen. Gelernt hatten einige von ihnen die Sprache in London und Leeds, in Manchester und Liverpool.

Auch ich profitiere von dieser Entwicklung. Fühle mich in Wrocław eben nicht „lost in translation“, sondern werde Ohrenzeuge davon, wie vor allem junge Polen unter dem angekündigten Brexit leiden. Mit dem vielberedeten „deutsch-polnischen Verhältnis“ hat das nichts zu tun. Auch geht es nicht um Träume und gesellschaftliche Utopien. Oder vielleicht doch: Denn gerade die Landflüchtigen aus den Käffern rings um Wroclaw hatten die EU-Niederlassungsfreiheit nutzen können, ihren Horizont zu weiten, Geld zu verdienen, mit einem anderen Blick in ihre Heimat zurückzukehren. Und mir davon zu erzählen. Da ist etwa die junge Hairstylistin, die ihr Handwerk in London gelernt hatte und in einer WG lebte, die im wahrsten Sinn multi-ethnisch war – inklusive von Konflikten, die sich freilich auf zivilisierte Weise domestizieren ließen. Mit ein paar Ersparnissen zurückgekehrt nach Wrocław, möchte sie nun bald wieder hinaus in die weite Welt: Was aber, wenn in Great Britain Polen als versierte Arbeitskräfte plötzlich nicht mehr erwünscht sind und sich nach dem Brexit-Referendum ungeahnte Barrieren auftun? Bliebe dann Kanada oder Australien, da ihr Neuseeland zu abgeschieden ist und die USA zu stressig?

Das sind die Geschichten jener, die – gerade als sozial Nicht-Privilegierte – von einer EU profitiert haben, deren Regelwerk eben nicht „anonym“ ist, sondern den Schwachen die Möglichkeit gibt, sich auf Verträge berufen zu können und nicht mehr völlig abhängig zu sein von den Launen nationaler Bürokratien. Denn diese jungen Menschen sind weder subventions-gepamperte Akademiker noch verwöhnte Künstler, die sich erst ab einer gewissen Stipendiums-Höhe in Bewegung setzen. Und schon gar nicht handelt es sich bei diesen Polinnen und Polen um jene Enkel der spätkommunistischen Nomenklatura Osteuropas, die nun in Brüssel "International Law" studieren, um die partielle Rechtlosigkeit in ihren jeweiligen Ländern noch ein paar Jährchen in die Länge zu ziehen.

Was aber wird jetzt mit den Wagemutigen aus Wrocław?

„Und jetzt erst recht“, sagt, mein Erstaunen freudig auskostend, mit Downtown Abbey-Akzent der weiterhin hoffnungsvoll anglophile P., der mir seinen angeblich unaussprechlichen, mit Konsonanten überhäuften Vornamen nicht ausbuchstabieren will. „Call me Dexter!“ Schließlich sei dies auch sein Nickname gewesen, als er vor ein paar Jahren bereits schon einmal in der britischen Hauptstadt gelebt hatte – in einer WG mit gleichaltrigen jungen Indern, die übrigens keineswegs dauernd mit dem Kopf gewackelt hätten und auch kein Curry-Aroma versprühten.

„Ich hab´ ein paar Zlotys gespart, die in London hoffentlich erst dann aufgebraucht sind, wenn ich einen neuen Job gefunden habe. Und ehe irgendwelche neuen Regeln erlassen sind, die mir das Leben erschweren. Anyway, keep finger´s crossed.“ Immerhin habe er, um selbst die europa-skeptischsten Briten um den Finger zu wickeln, seinen Akzent – damals in London erlernt und nun in Wrocław verbessert und verfeinert, wann immer er auf seinem Smartphone die geliebten movies mit Judi Dench und Maggie Smith sehe.

Das ist die wirkliche Elite, denke ich gerührt, Nachfahren von Balzacs Rastignac, furchtlose junge Menschen, die sich mit den großen Städten messen wollen, Schmiede ihres eigenen Glücks. Wie gut, dass wir alle zusammen englisch sprechen können, um Erfahrungen auszutauschen und nicht eingesperrt bleiben müssen in den jeweiligen nationalen und Sprach-Perspektiven. Also Brexit hin oder her: Never give up!
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