Mittwoch, 31. August 2016

Zeugen Jehovas am Straßenrand. Eine glückliche Kindheitserinnerung zur Mittagszeit

Unwirtliche Straßenecke Swidnicka/ Pilsudskiego: Straßenbahnlärm, quietschende Autoreifen, vom Wind hochgewehter Trottoirstaub, Passantenstress. Eigentlich tauche ich dort nur auf, um mitunter in jenem netten, pieksauberen Büffet-Restaurant preiswert zu Mittag zu essen, polnischen Salat und asiatische Grillpfanne. Überquere ich danach erneut die Swidnicka,  steht da in dem Miniaturpark immer dieses Grüppchen adrett (das heißt rührend altmodisch im Stil der 80ger) Gekleideter, die den blicklos Vorbeieilenden ein freundliches Lächeln senden und aufmunternd auf die Zeitschriften weisen, die da in einer Art Gestell präsentiert sind: Siehe, da ist die gute Botschaft! Ich kann die polnischen Titel nicht lesen – und weiß doch sofort, um was es sich handelt: „Wachtturm“ und „Erwachet“ der Zeugen Jehovas. Auch wenn sie – nun doch der Mode folgend – den Namen der aus Brooklyn geleiteten Religionsorganisation nicht mehr sogleich vorzeigen, denn da ist jetzt ja nur dieses Kürzel jw.org. Aber klar doch: Jehovah´s witnesses! 



Und plötzlich, über die Jahrzehnte hinweg, wieder die Stimme meiner Großmutter, die letzten August hochbetagt im Alter von 89 Jahren verstorben war: „Hör mal hin, mein Markole, das sind die lieben Brüder und Schwestern aus Polen!“ Polnische Gläubige, in den frühen achtziger Jahren besonders herzlich begrüßt bei den Kongressen der Zeugen Jehovas in Westdeutschland, deren Kassetten-Aufnahmen danach auf verschlungenen Wege auch die damals illegal tätigen Gemeinden der Zeugen Jehovas in der DDR erreicht hatten. Und das Kind, das ich einst war, lauschte. Die lieben  Brüder und Schwestern aus Polen. Als beginnender Teenager schon langsam überdrüssig der Ge- und Verbote der Organisation, der ich schließlich 1986 den Rücken kehren würde. 

Aber... Aber schon damals, ungeheures Privileg, immunisiert gegen jenen üblen DDR-Rassismus, der gegen die Vietnamesen („Fidschis“), die Angolaner („Briketts“) und eben auch gegen die Polen gerichtet war- gegen „die faulen Polacken, die erstmal richtig arbeitn solln wie wir“. Alltagssprüche, sogar Lehrersprüche – Elternsprüche ohnehin, als nach der Verhängung des Kriegsrechtes Päckchen gepackt und ins Nachbarland geschickt werden sollten. 


Und nichts, nichts von dieser Hirn und Herz zerfressenden Hass-Pest bei meinen Eltern, den Großeltern, all den lieben Brüdern und Schwestern in unserem sächsischen Kaff. Welch ein Geschenk, nun wirklich aus dem Geist jenes wohl schönsten Bibelverses aus den Büchern Moses´, älteste Zurückweisung der Xenophobie: „Glaubt nicht, dass Ihr besser seid als die Mohren, denn auch Ihr wart Sklaven im Lande Ägypten, aus dem Euch herausgeführt hat Euer einziger Gott und Herr Jehova.“ (Ich zitiere aus dem Gedächtnis, denn jetzt stehen zu bleiben und prompt eine JW-Bibel zum Nachschlagen hingereicht zu bekommen, wäre nun wohl doch zu viel des Guten.)



Später dann, nach Mauerfall – meine Eltern und ich waren längst im Westen – dann die Überraschung, als der Großvater plötzlich im DDR-Fernsehen zu sehen war: Als derjenige, der mit der neuen Regierung über die Wiederzulassung der sowohl unter den Nazis wie unter den Kommunisten verbotenen Zeugen Jehovas verhandelte. Mein Opa, der ab Mitte der sechziger Jahre doch tatsächlich die Gemeinschaft in der Illegalität geleitet hatte. Und nun in den Jahren nach ´89 ganz offiziell „Koordinator“ der ostdeutschen Zeugen Jehovas wurde (heimlich spottende Mitbrüder nannten ihn zuweilen „Terminator“), offizielle Kongress-Reden hielt und auch für die logistische Integration der in Ostdeutschland ansässigen polnischen Gemeinschaftsmitglieder verantwortlich war. 

„Das liegt dem Opa sehr am Herzen, die Hilfe für die lieben polnischen Brüder und Schwestern.“ Meine Großmutter, nun schon längst Rentnerin, mit froher, vogelgleich zirpender Stimme am Telefon. Und wiederum: Nichts da von  all den Hetzreden über „polnische Wirtschaft“oder unlustigen Witzen á la „Besuchen Sie Polen – Ihr Auto ist schon da“. Ein Antidot für´s ganze Leben.


Aber – meine Überlegung, als die Ampel endlich auf grün geschaltet ist und ich über das Pflaster und die Straßenbahngleise der Pilsudskiego sprinte – vielleicht auch nur deshalb wertzuschätzen, weil ich das Andere beizeiten, schon mit 16 Jahren, hinter mir gelassen hatte: Den seit über hundert Jahren propagierten Wahn, die „alte sündige Welt“ würde demnächst untergehen und nur die Zeugen Jehovas gerettet, die dann danach in der „Neuen Welt“ in unsterblicher Eintracht zusammenleben würden. Schneller Blick zurück – und tatsächlich: Auch die polnischen Ausgaben von „Wachtturm“ und „Erwachet“ zieren jene typisch amerikanische Werbe-Illustrationen von geradezu beängstigend sanften Menschen, die in dieser „Neuen Welt“ gemeinsam Äpfel von den Bäumen pflücken. Huch, dann schon lieber Zigaretten, Wodka und anderer Zeitvertreib... 

Aber dennoch: Wie ich sie, obwohl ich sie nicht kenne – und eigentlich auch gar nicht kennen lernen möchte – auf eine seltsame Weise trotzdem ins Herz geschlossen habe, diese mir unbekannten lieben polnischen Brüder und Schwestern. Immerhin nämlich sind sie keine jener bigotten, tribalistischen Kleriker, die sich heute dagegen sperren, auch nur ein Minimum jener vor Mord und Terror geflüchteten syrischen Familien aufzunehmen und dabei in ihrem neoheidnischen National-Wahn sogar die Mahnungen des Papstes ignorieren. (Ist schließlich ja auch nur ein Argentinier, ist keiner von uns...) 

Also, liebe unbekannte Schwestern und Brüder: Adieu & Alles Gute! Und meiner wunderbaren, noch im hohen Alter schwarzhaarigen Großmutter, 1926 in Liegnitz/Legnica als Tochter eines Polen mit wahrscheinlich ethnischer Mehrfach-Identität geboren, das einst gegebene Versprechen gehalten: „Musst nicht allen erzählen, warum ich Dich immer Markole nenne, geht doch die Leute nichts an.“ So soll es sein, aber die Erinnerung an diese gute, von Ressentiments und Hass freie Kindheit – die sollte jetzt schon mal hinaus, ins rätselhaft Weite der  Internet-Welt... 



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