Sonntag, 29. Mai 2016

Alltagsbeobachtung, länderübergreifend.
Diese schamhaft weggedrehten Köpfe des Prekariats – visueller Beweis der Rückkehr der sozialen Frage, grenz- und länderüberschreitend. Die Rezeption des Apartment-Komplexes, in dem sich meine Stipendiatenwohnung befindet, ist rund um die Uhr besetzt. Eine Art Tresen, brusthoch und dahinter ein Monitor und ein Sessel. Darauf die grauhaarigen Alten, Männer und Frauen im Rentenalter, die nicht den Eindruck erwecken, hier rund um die Uhr zu sitzen, weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fiele oder sie Lust hätten – wie es in der gut gelaunten Sprache der Privilegierten heißt – "noch mal was ganz anderes" zu machen. Sitzen tagein-tagaus hinter dieser Brustwehr, vergessene Wächter. Kaum oder gar nicht wahrgenommen von der Mehrheit der Mieter, Menschen aus allen Teilen der Welt, expats, vermutlich gut bezahlt und mit Jobs, die irgend etwas mit IT, communication und derlei zu tun haben. Darunter auch einige Deutsche und Polen, die über das Wochenende wieder nach Hause fahren. Und an den übrigen Tagen an den Alten, als wären es Dinge, ebenso blicklos vorbeilaufen wie alle anderen.

Was im übrigen keine Arroganz zu sein scheint. Vollauf beschäftigt mit ihren Smartphones, Designer-Kinderwagen vorbeischiebend oder Bio-Food-Tüten  aus dem nahe gelegenen Boutique-Supermarkt Alma in ihre Apartments schleppend, sind diese Leute vermutlich Teil jener neuen globalen Öko-Bourgeoisie, lebensweltlich liberal, polyglott und aufgeklärt. Kurz: Leute, mit denen man lieber ein Glas Wein trinken würde als auf ein Bier anzustoßen mit den Anderen, den Monolingualen, womöglich auch noch Ressentimentgesteuerten, die in den Demokratien des Westens schon lange nicht mehr traditionell links oder konservativ wählen, sondern den Hasardeuren eines national-sozialen Populismus hinterherlaufen. 

Nur, dass dieses Trennbild – hier die coolen Aufgeklärten, dort das verschwitzte, tumbe Volk – unscharf ist: Sind nämlich die von lächerlichen Bärten auf markant getrimmten Baby-Faces der 35jährigen Hipster-Familienväter (genau: jene mit den spitz zulaufenden Schuhen, taillierten Weißhemden unter der Anzugjacke oder in ridikül effeminierten, oberschenkellangen, schwarzen Rotkäppchenjäckchen) in unbeobachteten Momenten nicht auch voller Zukunftsangst und Abstiegspanik? Ganz zu schweigen von den Sinusmündern all der Helicoptermütter, um ihren sustainable und ökologisch ernährten Nachwuchs besorgt und doch vor allem gezeichnet von den Frustrationen jener Monogamie, die in unseren neo-puritanistischen Zeiten längst keinen John Updike mehr hat, um die Konvention zu verspotten.

Und "die Anderen", die sozial Abgehängten? Drehen auch hier in Wroclaw schon prophylaktisch die Köpfe weg, um ihrer Nichtbeachtung nicht ansichtig zu werden – genauso wie "mein" Briefträger in Berlin, der dünne Mittelalte vom privaten Unternehmen PIN, der mir an der Wohnungstür die Briefe und Päckchen mit einem scheuen Lächeln überreicht und dann noch jedes Mal - nun schon wieder auf dem Fahrrad strampelnd – verdutzt ist, wenn ich ihn auch auf der Straße grüße. Ebenso die Alten im Apartment-Komplex: Scheinen permanent überrascht, wenn ich bei der Rückkehr (da ich sie nun hinter der nach vorn offenen Brustwehr  richtig sehen kann) ein Dzień dobry oder Dobranoc sage. Nicht, dass sie etwa darauf warten würden. Nicht, dass sie – auch nach über einem Monat meines Hierseins – nicht zuerst einmal den Blick abwenden würden. 

Und: Nicht, dass ich in dieser Geschichte der Gute wäre. Hatte ich nicht manches Mal auch deshalb betont jovial gegrüßt, da ich frühmorgens zwar in korrekter Bekleidung, doch in diverser Begleitung wieder ins Haus eingerauscht war und von den Alten so etwas wie atmosphärische Zustimmung erheischen wollte – als wäre diese tatsächlich nötig? Einmal antwortete eine der Halb-Greisinnen mit einem "Dzień dobry-dzień dobry", doch in der vermeintlichen Leutseligkeit des Doppelgrußes schien auch das andere, Althergebrachte mitzuschwingen: Schlingel und Filou, bist dennoch keiner von uns – eher einer von denen. Partiell durchaus wahr. Obwohl mein Ururgroßvater zeitlebens stolz darauf war, den SPD-Mitbegründer und Bismarck-Gegner August Bebel noch persönlich kennengelernt zu haben. Obwohl dessen Sohn, mein Urgroßvater, dann in der Weimarer Republik Anarcho-Syndikalist war und zusammen mit meiner Urgroßmutter Broschüren verteilte. Gegen die Nazis und gegen die Kommunisten, denn den Arbeitern sollte es doch verdammt noch mal besser gehen und keiner sollte in ihrem Namen sprechen. 

Allerdings: Gut gehen sollte es ihnen, die Chance sollten sie haben, raus zu kommen aus ihrer engen Welt. Keine Proleten-Idealisierung, eher der Zorn auf soziale Ungerechtigkeit. Dazu der Philosophen-Spruch: "Verachte die Mächtigen und misstraue den Machtlosen."

Und all das geht mir durch den Kopf, während ich weiterhin  Dzien dobry oder Dobranoc sage und gleichzeitig – wie alle anderen im Haus – an den Alten vorbeilaufe und mich schon im Lift darauf freue, diese Gedanken zu ordnen, aufzuschreiben, zu posten. (Inklusive des "lustigen" Missverständnisses, als ich am ersten Tag noch "Hi" gesagt und einer der Alten wohl "Heil!" verstanden hatte und mich mit ungläubig aufgerissenen Augen anstarrte.) Denn da hilft alles "kritische Bewusstsein" nicht: Auch dies hier sind die Notizen eines sozial relativ Bessergestellten. (Auch wenn er diese Position, fragil genug,  dem eigenen Schreiben verdankt und keiner wie auch immer gearteten Ausbeutung Anderer – was nutzt dies schon jenen "Anderen"?) 

Gemessen an dieser Kluft, denke ich, bekommen die gängigen Symposiums-Überlegungen zu "deutsch-polnischen Differenzen" etwas rührend Anachronistisches. Als wäre "nationale Identität" der wirkliche Knackpunkt. Als litten die Eliten dies- und jenseits der Oder nicht im Moment beide an Konzeptionsmangel. Weder "rechte" Identitätsdebatten noch "linke" Primärsorgen um Toiletten für Transsexuelle aber bewahren vor dem Dilemma: Was, wenn immer mehr Menschen unseren Blicken entschwinden? In welchen Trichter landen sie und – möglicherweise – als welche furchterregenden, nach Rache sinnenden Mutanten kommen sie da wieder heraus? Dzień dobry, dobranoc …
     
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Donnerstag, 26. Mai 2016


Im LUNETA-Zelt.

Zum Selbstversuch im – wie´s so schön heißt "interaktiven Raum", in einer "multimedialen Installation", einer … Womöglich also in einer Blase technizistischer Tüftelei? Nicht ganz, denn die blauen LUNETA-Zelte evozieren glücklicherweise vor allem Gedanken und Assoziationen, die gerade die Grenzen digitaler Perfektion offenbaren. Zwei dieser blauen, sechs Meter hohen und zwölf Meter breiten Kuppeln zieren bis zum 3. Juli die Bahnhofsvorplätze in Wrocław und an der Berliner Friedrichstraße. 



Drinnen: Wandgroße Monitore, welche die jeweils andere Stadt in Echtzeit zeigen. Kameras, in denen man Berliner, Wrocławer und sich selbst sieht, dazu ein ausgefeiltes Soundsystem, damit man einander auch hören kann bei den zahlreichen Veranstaltungen/Lesungen/Konzerten/Podiumsgesprächen. Ersonnen hat diese Art real gewordene Jules-Verne-Phantasie der Berliner Filmemacher- und Theoretiker Volkmar Umlauft, und es war mehr als nur eine schöne Geste, das zum Veranstaltungsauftakt ein Ausschnitt aus dem demnächst erscheinenden Dokumentarfilm "Wir sind Juden aus Breslau" gezeigt wurde.

Unmöglich nämlich, von "Mobilität" zu sprechen und von Flucht, Vertreibung und Deportation zu schweigen. Wer in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Bahnhöfen von Breslau und Berlin zeitig genug in einen Zug gestiegen war, hatte die große Chance, zu überleben. Nicht zufällig steht an der Friedrichstraße – auf der anderen Seite der Gleise und des Bahngebäudes – eine Skulpturengruppe von Frank Meisler, welche an jenen "Kindertransport" von 1938 erinnert, dem auch Meisler das Überleben verdankt. Jüdische Eltern schickten damals ihre Kinder nach England, das für kurze Zeit seine Pforten ein klein wenig  geöffnet hatte, damit wenigstens sie nicht ermordet würden. Die gleichen Skulpturen dann am Ankunftsort: London, Liverpool Station.

Und der Ort, der mich an all diese Verknüpfungen erinnert – eben jenes LUNETA-Zelt, in dem mich die Germanistin Monika Wolting kundig zu Literarischem und Politischem befragt und ich dem überschaubaren Publikum in Wrocław und Berlin Rede und Antwort stehe. Und doch mit den Gedanken, provoziert von eben diesem Bahnhofsvorplatz, ganz woanders bin oder besser: ganz  in der Nähe. Erst am Vortag nämlich hatte mir einer der aufmerksamsten polnischen Leser meiner Blog-Einträge geschrieben: Er wohne in der Ulica Jednosci Narodwej, der ehemaligen Matthiassstraße, und sehe täglich die"Stolpersteine" auf dem Straßenpflaster vor dem Haus Nr. 95, welche an die 1943 deportierte deutschjüdische Familie Zorek erinnere. Doch nicht allein das: Die Zoreks hatten eine Etage über seiner jetzigen Wohnung gelebt. Und: Der von mir erwähnte Werner Zorek, der Dank des "Kindertransports" als einziger seiner Familie überlebt hatte, sei inzwischen zwar verstorben, habe aber einen Sohn in den USA, der Wroclaw bereits besucht hat  vielleicht möchte ich Michael Zorek ja mal per E-Mail kontaktieren. (Ein Loblied also auf die Technik, sofern sie das bleibt, was sie ist: Diener und Instrumentarium unserer menschlichen Existenz.) 


So gehen die Gedanken im Kopf  hin und her, während die Monitore die Berliner Friedrichstraße vom Mai 2016 zeigen, wo kaum noch etwas an die Vergangenheit erinnert auch nicht an die jüngste, als im nahe gelegenen "Tränenpalast" Ostberliner DDR-Bürger Abschied von ihren in Westberlin lebenden Freunden und Verwandten nehmen mussten, deren S-Bahn-Fahrt hinüber in Richtung Bahnhof Zoo eine Spazierfahrt in die Freiheit war (auch wenn dies damals womöglich nicht alle Westler kapiert hatten). 


"Da wo die Friedrichstraße sacht/ den Weg über das Wasser macht …" Sieh an: Die Worte und die Melodie von Wolf Biermanns wohl berühmtestem Song vom "Preußischen Ikarus" sind ja auch noch im Gedächtnis abrufbar! Dazu diese Prophezeiung des Dichters, den im Jahre 1976 (als in Polen die Oppositionsgruppe KOR gegründet wurde) die DDR-Machthaber ausgebürgert hatten: 1981 das Kriegsrecht verhängt, ein Traum brutal zerstört, doch Biermanns Gewissheit, den Herrschenden in Warschau furchtlos ins Gesicht gesungen: "Genau dieser Traum wird in Euren Kindern gegen Euch wieder auferstehen."

Wie es dann ja auch geschah, erinnert in einem blauen Kuppelzelt am Hauptbahnhof zu Wrocław, das schon aus diesem Grund wahrscheinlich ganz nützlich ist. 

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Samstag, 21. Mai 2016

Fairness und Wachsamkeit
In memoriam Fritz Stern (Breslau 1926 – New York 2016) 

"Am 30. Januar 1933, drei Tage vor meinem siebenten Geburtstag, hörte ich auf dem Heimweg von der Schule Zeitungsjungen ein Extrablatt ausrufen." Soeben war Hitler Reichskanzler geworden und für den protestantisch getauften Fritz Stern, jüngster Sprössling einer seit Generationen in Breslau ansässigen, assimilierten deutsch-jüdischen Familie, würde eine Welt zusammenstürzen.

Seine Eltern deuteten die Zeichen richtig und verließen mit ihm bereits im September '33 die schlesische Heimat. Blieben, voll düsterer Vorahnungen über die Zukunft Europas, nur für ein paar Jahre in Paris und setzten alles daran, die rettende Schiffspassage zu erhalten. Dorthin, wo Freiheit und Hoffnung war und Demokratie und der Willen, diese auch zu verteidigen – in die Vereinigten Staaten von Amerika des linksliberalen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt. Zeitlebens würde Fritz Stern, späterhin längst beidseits des Atlantik ein  hochangesehener Historiker und Intellektueller, dieser Gestimmtheit treu bleiben: Eine feine Witterung für autoritäre, ja totalitäre Versuchungen und eine Loyalität gegenüber jenen Ideen und Menschen, die für eine offene und gleichzeitig wehrhafte Gesellschaft standen. Mit deutschen Gesinnungspazifisten konnte Stern deshalb ebenso wenig anfangen wie mit amerikanischen McCarthy-Leuten, Rechtfertigern des Vietnamkriegs und zynischen Machtpolitikern á la Richard Nixon oder Henry Kissinger.

Gleichwohl war der in den USA wie auch in der Bundesrepublik am Ende seines Lebens geradezu mit Preisen und Ehren überhäufte Fritz Stern kein moralisierender Künder des idealen Guten und Schönen. Trotz seines Witzes und seiner menschenfreundlichen Ironie ein strenger Denker, beendete er seine legendären Vorlesungen an der Columbia University gern mit den Zeilen aus Adam Wazyks "Gedicht für Erwachsene", das 1955 in Polen erschienen war und sich wendete gegen "die Geier der Abstraktion, die uns das Gehirn zerfressen".

Für ihn nämlich gab es nicht "die" Geschichte und schon gar keine deterministisch bestimmten Zwangsläufigkeiten. "Die Geschichte wusste nicht, was wir wissen." Umso wichtiger war es für Stern, aus dem Geschehenen Lehren zu ziehen – ganz konkret: Wetterfeste demokratische Institutionen, Gewaltenteilung und Presse- und Meinungsfreiheit, ergo eine liberale westliche Demokratie. Nach mörderischen Sonderwegen sah er das gegenwärtige Deutschland endlich im Westen angekommen, flankiert von den segensreichen Institutionen EU und NATO. Doch auch hier hier: Kein Kitsch, kein Eiapopeia: Noch in seinen letzten Interviews vor einigen Wochen warnte der geistig wach gebliebene 90-jährige vor den durchgeknallten west- und osteuropäischen Rechtspopulisten, aber auch vor den Gefahren, die in seiner Wahlheimat von einem brandgefährlichen Irrläufer wie Donald Trump ausgingen. "Für jemanden, der sich Zeit seines Lebens für eine tolerante Gesellschaft engagiert hat, ist dieser jetzt zu beobachtende Siegeszug des Illiberalismus etwas sehr, sehr Trauriges."

Als Ideenhistoriker zog er nämlich Vergleiche, hatten doch bereits in der Weimarer Republik rechtskonservative Ideologen die Schwächen des parlamentarischen Systems instrumentalisiert, um der Öffentlichkeit ihre Version einer Gesellschaft anzudienen. Angeblich "rein", radikal völkisch, ethnisch homogen und politisch gleichgerichtet – ein "drittes Reich", wie einer dieser Propagandisten bereits Anfang der zwanziger Jahre gefordert hatte. Gerade deshalb müsste man Fritz Sterns wohl wichtigstes Buch jetzt noch einmal lesen: "Kulturpessimismus als politische Gefahr" ist als seine Dissertation bereits 1953 erschienen und bleibt doch – ähnlich wie etwa Czesław Miłosz´ "Verführtes Denken" – von ungebrochener, beunruhigender Aktualität. Vor allem jene, die auch heute nicht müde werden, der angeblich verweichlichten liberalen Gesellschaft den Totenschein auszustellen, könnten sich hier wiedererkennen in jenen nur vermeintlich idealistisch-religiösen, im Grunde jedoch krankhaft nihilistischen Desperados der zwanziger Jahre. Wie treffend hatte sie der humane Agnostiker Fritz Stern beschrieben: "Sie waren die Ankläger, aber unwissentlich auch ein Zeugnis dessen, was sie anklagten."

Unvergessen auch, was nach seiner Meinung einen wahren Patrioten ausmachte: Einen, der empathisch und sensibel genug ist, sich mitunter auch für das eigene Land zu schämen.

Fritz Stern war Ehrenmitglied unseres "PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland". Gern hätte ich ihn, den als ebenso grundgütig wie unbestechlich Beschriebenen, auch einmal persönlich getroffen. Bei der nächsten USA-Reise, dachte ich oft, bei der nächsten … Jetzt ist es dafür zu spät; am 18. Mai ist Fritz Stern in New York gestorben Was bleibt, ist die Erinnerung an ein geradezu exemplarisches Leben, sind aber vor allem seine Bücher, Sterns lebenslanger Einspruch gegen Irrationalismus und menschenverachtende Hysterie. What a man.

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Mittwoch, 18. Mai 2016

Ein Vormittag unter (allzu) wohlerzogenen Klosterschülern? Gemach, denn das 1682 erbaute Gebäude des ehemaligen Prämonstratenser-Klosters beherbergt ja bereits seit langem die Philologische Abteilung der hiesigen Universität. Professor Monika Wolting von der Germanistischen Fakultät hat mich zu einer vormittäglichen Veranstaltung eingeladen - in Kooperation mit dem Oppenheim-Haus OP ENHEIM und dem Kulturforum östliches Europa. 


Seltsames Gefühl (wie immer in solchen Momenten wiederkehrend, nun schon seit Jahren): Vor Studentinnen und Studenten zu sitzen/zu lesen/zu reden anstatt in ihren Reihen interessiert oder auch skeptisch-spöttisch zu schauen, wer da vorn gerade das große Schriftsteller-Wort führt. Dabei hatte Monika Wolting die Lehrstunde denkbar unprätentiös gestaltet: Spannende, präzise Fragen und dazu per Beamer an die Wand geworfene Bilder "meiner" Städte - der Wohnort Berlin, die kambodschanische Reportage-Destination Angkor Wat, mein geliebtes Tel Aviv, und dazu nun auch für ein paar Monate Wroclaw. Kein germanistisches Fach-Chinesisch, kein kryptischer Akademismus. Aufmerksam sympathisierendes Zuhören der Studierenden (nach zig Veranstaltungen dieser Art bekommt man irgendwann ein Gespür dafür), doch danach ...

Nicht eine Nachfrage aus ihren Reihen. Vielleicht ja doch schüchterne Klosterschüler? Wer sich meldete, war ein Professor — und der kleine, in Deutschland aufgewachsene Sohn von Monika Wolting. "Sag mal, schreibst Du auch Kinderbücher? Wusstest Du schon als Junge, dass Du später mal Schriftsteller werden würdest?" Kluge, gewitzte Fragen — und der Blick in die offenen, freundlichen Gesichter des studentischen Publikums hätten eine Fortsetzung durchaus erwarten lassen. (Himmelherrgott, meine stille Überlegung, gibt´s hier nicht zumindest einen Studenten, der — einer guten alten Tradition folgend — sich durch ein paar provokative Fragen profilieren und bewundernde Frauenblicke kassieren möchte auf Kosten des meinungsfreudigen Typen da vorn am Prof-Tisch? Wie hätte mich derlei gefreut, mit solchen Riten im Westen sozialisiert. Dabei war ich, im Mai ´89 in die Bundesrepublik gekommen, anfangs ja sogar selbst ein wenig schockiert von einer öffentlichen Debattenkultur, bei der sich jeder zu Wort meldete — auch wenn er/sie anscheinend gar nix zu sagen hatte. Möchte seither aber gerade das nicht mehr missen.)

"In Polen ist das anders", erfahre ich danach. "Mit fünf Studierenden an einem Tisch wäre sofort eine Diskussion entstanden. Aber dass sich einer oder eine meldet — vor den ganzen Leuten?"
Interessant, denke ich, und: Wieder was dazu gelernt über verschiedene Mentalitäten. Wobei mir am plausibelsten jene Erklärung scheint, dass sich die jungen GermanistInnen vielleicht der erlernten Sprache noch zu unsicher seien, um sie auch coram publico zu verwenden. Hätten diese Scheu freilich nicht haben müssen — schon gar nicht bei mir, da ich doch sogar meine Muttersprache mit Akzent spreche, mit den permanent unsauberen A´s und O´s eines leider nicht zu eliminierenden sächsischen Dialekts.






Wie auch immer, es war ein schöner Vormittag. Den eigenen Namen auf einem Plakat im polnischen Instrumentalis zu sehen (eine Lesung mit Marko Martinem ...)!  Den wunderschön restaurierten Innenhof der Fakultät zu entdecken, der einem Jahrhunderte altem Klostergarten gleicht und doch erst vor wenigen Jahren neu gestaltet wurde. Der gleiche Eindruck des becircend (Wieder-)Gemachten dann im Lesesaal der Polonistik: Stuckverzierte Barockpracht in von draußen hereinpfeilendem Sonnenlicht und ganz hinten, versunken in einem Samtsessel, ein Student mit Smartphone.




Dieser Zauber des vermeintlich Disparaten, Nicht- oder Halb-Authentischen, des Hinzugefügten oder Wiedergestellten oder neu oder anders Erdachten, diese sympathische Treue zu einer Tradition, wie sie heute interpretiert wird.  (Wäre doch gelacht, bekäme man das mit dem Fragen und öffentlichen Uni-Debattieren nicht auch noch hin — gerade in einer Zeit, wo in ganz Europa sich jene das Lautsprecher-Monopol anmassen, denen geradezu widersprochen werden muss.) 
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Sonntag, 15. Mai 2016

Von Süd nach Nord, von Ost nach West: Das Bier-Werbeplakat scheint ultra-präsent in der Stadt. Beim Warten auf die Tram denke ich mir deshalb Biographien für die beiden aus, lande aber immer wieder bei Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl. (Was etwas ungerecht ist, denn die Zwei sehen ja gewiss nicht aus wie tumb ehrsüchtige Duellanten.) 


Die freien Assoziationen sind übrigens NICHT Bier-gesättigt und noch nicht einmal — oder kaum - vom hiesigen Wodka stimuliert, der, so höre ich überall, weniger Kohlenhydrate habe als das plakat-beworbene Gebräu und somit fast ein Diätprogramm darstelle. Mit Gedanken wie diesen dann zwei- oder dreimal die Woche in "mein" Hallenschwimmbad an der Ulica Teatralna, das 1897 nach Entwürfen des Architekten Wilhelm Werdelmann erbaut wurde und bis heute seinen antikisierenden Charme bewahrt hat.

Während ich dort meine Bahnen schwimme, kommt bereits der nächste Synapsensprung —apropos Wasser. Um mir den Straßennamen Podwale zu merken, hatte ich mir in den ersten Tagen meines Hierseins (vor einer halben Ewigkeit, vor vier Wochen) eine Art Eselsbrücke erbaut. Noch wusste ich nicht, dass "Podwale" auf deutsch "Zum Stadtwall" hieß, aber das von Blättern und Zweigen verschattete Wasser des schmalen Stadtgrabens (an bestimmten Biegungen, zu bestimmten Uhrzeiten an Amsterdamer Grachten erinnernd) sah ich sehr wohl.

Ergo: Pottwal! Und auf diesem Umweg stracks zu Herman Melvilles "Moby Dick" und Captain Ahab. Könnten — letzte Assoziation, ehe ich hinter dem RENOMA schließlich meine Stipendiaten-Wohnung erreiche, nüchtern — die beiden Tyskie-Männer nicht auch Seeleute sein, mit ihrem legendären Schiff Pequod am Stadtgraben geankert und in Höhe des Opernhauses an Land gekraxelt?

Jetzt müsste zum schrägen Libretto nur noch die passende Musik her ...
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Mittwoch, 11. Mai 2016

Miss Zuki, Utz, die beiden Ewas & other friends.
Die Buchhandlung "Tajne Komplety" in einem der schön restaurierten Rathaus-Durchgänge ist ein kosmopolitischer Ort par excellence. Wenn man vom Rynek aus in die fast kleinstädtisch stille Gasse kommt, sieht man bereits im Schaufenster, dass hier der freie Geist der Vermischung nicht etwa herrscht, sondern fröhlich weht: Grace Jones erzählt L´histoire d´O und tanzt Polnische Polka. (So soll es sein!)


Im Inneren aber, inmitten von Regalen mit polnischen/deutschen/englischen Büchern (zum Großteil Übersetzungen, die Zusätzliches bieten zu den Werken polnischer/deutscher/englischer Autoren) sitzt mein guter alter Freund, der Lyriker und Prosaautor Utz Rachowski und liest aus seinen Gedichten auf Miss Zuki, poetisches Resultat eines USA-Aufenthaltes in Gettysburg. Sieh an: Utz, 1954 im Vogtland geboren (und nach der einstigen politischen Ausbürgerung nach Westberlin längst wieder in seiner alten Heimat lebend) stapft mit seinen amerikanischen Literaturstudenten über das ehemalige Bürgerkriegs-Schlachtfeld, erinnert sich an Präsident Lincolns legendäre Gettysburg Adress, zitiert Zeilen von Walt Whitman und Carl Sandburg, bedichtet aber vor allem das kleine Hündchen seiner Gastgeber – den Cavalier Prince Charles Spaniel Miss Zuki, der alle weltgeschichtlichen Verwerfungen so herzlich egal sind.

Mit leicht sächsischem Akzent liest Utz die amerikanischen Namen, während seine Übersetzerin Ewa Szymani die gleichen Worte mit sanft polnischer Modulation ausspricht. Unter dem Titel Miss Zuki – czyli Ameryka jest calkiem blisko! sind die Gedichte, drei Jahre nach der deutschen Originalausgabe, inzwischen in einem Wrocławer Verlag erschienen, mit einer empathischen Vorbemerkung von Adam Zagajewski und versehen mit einem einfühlsamen literaturwissenschaftlichen Nachwort der hiesigen Germanistin Ewa Matkowska.



Der ehemals von der Stasi ins Gefängnis geworfene Dichter und das amerikanische Hündchen, durch beruhigendes Schweigen miteinander verbunden, "denn wir beide wurden zu oft angebellt". Kunst aber transformiert vergangenen Schmerz, und so weiten sich die Perspektiven – bis hin zu jenen Zeilen, wo der seit jeher Polen-affine und von der KOR- und Solidarność-Opposition geprägte Dichter davon träumt, mit Miss Zuki irgendwann auch seinen hiesigen Lieblingsort zu besuchen - das Literatka am Rynek.

Nach der Veranstaltung sitzen wir just da: Utz, die beiden Ewas und die Malerin Barbara Jankowska-John, die sich von den Miss Zuki-Gedichten zu originellen Bildern inspirieren ließ (bis zum 17. Juni im Sächsischen Verbindungsbüro am Rynek 7 zu betrachten). Mit von der Partie weitere polnische und deutsche Freunde, darunter Rachowskis Jugendkumpel Salli Sallmann, ebenfalls Dichter und dazu Liedermacher, auch er ein Sachse, auch er aus der Generation meines Vaters (und wie mein Vater mit politischen Hafterfahrungen) – auch er einer der Nicht-Verbitterten, einer von denen, deren Erinnerungsvermögen kein Tunnel ist, sondern Horizont voller Assoziationen. (Ach, denke ich, der 1970 Geborene, hätten doch meine schriftstellernden Altersgenossen – ganz zu schweigen von den lapprig-flauen Jüngeren im konformistischen Nerd-Hornbrillen-Look – auch nur ein Prozent der Vitalität dieser Generation, ihrer politischen Wachheit und menschenfreundlichen Ironie.)


Danach noch bis Mitternacht in einem Biergarten nahe der Elisabeth-Kirche. Utz und Salli auch nach dem x-ten Bier und Wein nicht etwa angeschickert, sondern besonders aufmerksam. Also, lieber Marko, wie steht´s mit Deinem Blog? Dass Du nur nicht auf subjektive Notate verzichtest und stattdessen etwa repräsentative Einträge verbrichst! Utz Rachowski: "Du bist einzig und allein Deinem Blick verpflichtet, also bleib ihm immer treu und lass dich nicht von irgendwelchen In-sti-tu-tio-nen einquirlen. Bist doch wohl nicht hier, um Events zu promoten. und sollten anmaßende oder weinerliche E-Mails kommen - just delete it." (Dies wieder mit hinreißend vogtländisch-sächsischem Akzent.) Dazu Salli, subversiver literarischer Sparring-Partner und aus dem Gedächtnis eines seiner frühen DDR-Gedichte hervorholend, das den Titel "Antwort auf eine Disziplinarmaßnahme" trägt: "Aller Frustration zum Hohn/ sprech ich diesen Vers./ Es blüht der feuerrote Mohn/ auch ohne euch. Das wär´s."

Beifall und großes Hallo, während eine Turmuhr Zwölf schlägt. Und noch ein letzter Draufsetzer, da ja in Santiago de Chile soeben die Genossin Margot Honecker gestorben ist, böse und verbittert bis zuletzt, ohne jegliches Schuldgefühl. Salli Sallmann erzählt, was ihm irgendwann ein junger Westler mitgeteilt hatte: "Sagt der zu mir, Margot Honecker sei doch die Ehefrau von Salvador Allende gewesen, die dieser aus der DDR freigekauft habe. Schade, aber ich musste dem Knaben die Illusion nehmen..."

Was für eine Freude, Freunde wie diese zu haben, alle Pseudo-Autoritäten dieser Welt mit einem Vers beiseite wischend! Kein Wunder, dass Adam Zagajewski Utz Rachowskis Gedichte so mag. Und wohl auch kein Zufall, dass Salli und Utz, die beiden renitenten Ex-DDRler, sich im sommerlichen Wrocław offensichtlich gerade pudelwohl fühlen.
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Sonntag, 8. Mai 2016

Unterwegs mit Peter Pragal.

Am Wochenende tagte die "Deutsch-Polnische Gesellschaft der Universität Wroclaw (Breslau)" hier in der Stadt und feierte ihr nunmehr 15jähriges Bestehen. Was unter der langjährigen Leitung ihres Präsidenten Prof. Norbert Heisig und seines Vizepräsidenten, des Universitäts-Rektors Prof. Marek Bojarski, für die Alma Mater geleistet wurde, würde wohl jeden Blog-Eintrag sprengen.  Aber auch die Biographien ihrer Mitglieder, Enthusiasten und Experten, sind spannend, und so bin ich auf Stadttour verabredet mit Peter Pragal. Der 1939 in Breslau geborene und 1944 mit Mutter und Geschwistern aus der Stadt geflüchtete spätere Journalist hat eines jener Bücher geschrieben, die mich geradezu magnetisch hierher nach Wroclaw gezogen haben.

Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland ist nämlich trotz des nostalgischen Titels keine konventionelle "Ehemaligen"-Prosa, sondern erzählt konzis und spannend von  "der Suche nach Heimat". Als der Autor, damals als Reporter für den Stern, im Jahre 1980 zum ersten Mal in die Stadt zurückkehrte, störte er sich an der kommunistischen Geschichtsklitterung, welche die Jahrhunderte lange deutsche Prägung zu verschweigen trachtete. In der Bundesrepublik rieb er sich gleichzeitig an jenen Heimatvertriebenen, die die Primärursache – den 30. Januar 1933 – am liebsten verdrängten oder doch zumindest relativierten.

In seinem Buch beschreibt Peter Pragal, wie sich in  den seither vergangenen Jahrzehnten die Atmosphäre entspannte – in Polen fiel der Kommunismus und in Deutschland so manche Scheuklappe. "Heute fühle ich mich hier nicht als geduldeter Fremder, sondern als willkommener Gast, der seine Vaterstadt besucht."

Und so beginnt unsere kleine  Tour am Bronze-Torso, der im Schatten der Elisabeth-Kirche an den 1906 in Breslau geborenen und 1945 im KZ ermordeten Nazigegner Pfarrer Bonhoeffer erinnert – die Original-Statue steht in Berlin an der Zionskirche. Pragal, der als Journalist bereits Politiker wie den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau und den damaligen Bundestagspräsidenten auf Wroclaw-Besuchen begleitet hatte, ist gleichzeitig Faktenkenner und Stadtliebhaber. Woher diese Mischung aus Empathie und Wissen? Erstes mag ein Charakterzug sein, zweites ein Resultat unerschöpflicher Neugier, die zum Beispiel in den Antiquariaten  Wroclaws gestillt (und weiter angefacht) werden kann, wo noch so mancher Schatz aus Breslauer Tagen zu bergen ist.


Was für ein Vergnügen deshalb, mit ihm im Mai-Sonnenlicht über die Oder-Brücke an der Ulica Pomorska zu flanieren und die Geschichte hören, wie er eines Tages im nahe gelegenen Staatsarchiv seine Geburtsurkunde fand. Auch jetzt hat Peter Pragal sie als Kopie dabei, das Original geschrieben in alter  Sütterlin-Schrift. Und dennoch: Kein Kitsch, denn wenn sich für ihn selbst mit dieser unerwarteten Entdeckung die eigene Lebensgeschichte auch gerundet hatte – unzähligen anderen Menschen blieb dieses Glück verwehrt. Und so wechseln wir von seinem Vaterhaus in der heutigen Ulica Jedn. Narodowej in Höhe des ehemaligen Waterloo-Platz auf die gegenüberliegende Straßenseite und betrachten vor Hausnummer 95 die vier "Stolpersteine", die dem Andenken von vier Breslauer Juden gewidmet sind. Nur einer überlebte Dank des"Kindertransportes" nach England, die anderen wurden 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.






Nicht etwa politische Korrektheit führt unsere Schritte, und auch keine Mission. Um was es geht, ist die Vergegenwärtigung der Vergangenheit, ohne Verantwortlichkeiten zu verwischen, ohne in die Fallstricke selektiver Erinnerung zu geraten. Und keine moralische Großtat ist dies, sondern pure Selbstverständlichkeit. Wie bewegend, mit jemandem, der hier 1939 geboren wurde, durch die gegenwärtige, sich so frühsommerlich präsentierende Stadt zu gehen, und die urbane Schönheit nicht gegen das einstige Geschehen auszuspielen, keine Deklamations-Worte zu machen, sondern einfach zu schauen. Vielen Dank, lieber Peter Pragal!
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Mittwoch, 4. Mai 2016

Im Japanischen Garten.
Immer dem leuchtenden Tulpenfeld hinter der Jahrhunderthalle nach!



Dann im Japanischen Garten lediglich das Bedauern, dass man so gar nicht bewandert ist in der Kunst des Haiku. Denn was für ein Vergnügen wäre es, in wenigen, komprimierten Zeilen das Komprimierte der Natur festzuhalten – und den Gedanken, der dahinter steht und dieses Wunderwerk möglich gemacht hat.


Schmale, sanft geschwungene Wege, fein domestizierte Wasserläufe, filigrane Brücken und frühlingshaft blühende Bäume und Sträucher: Erdacht und erstmals angelegt, als 1913 das 20. Jahrhundert ebenfalls noch jung war. Man weiß, wie die Geschichte weiter ging: Kollektiv austickende Nationen, Kriege, in die man sich aus purem Nihilismus und falsch verstandenen Nationalstolz stürzte – Japaner und Deutsche dann im Zweiten Weltkrieg unselig vereint. Und doch. Und doch hatte es in jenem Jahr 1913 einen Menschen wie den Grafen Friedrich von Hochberg gegeben, der zusammen mit seinen deutschen und japanischen Gärtnern, den Herren Anlauf und Mankichi, diesen besseren Traum wahr machte,

Danach für beinahe ein Jahrhundert in Vergessenheit geraten, waren es im Jahre 1996 dann polnische und wiederum japanische Spezialisten, die nach bewahrten alten Unterlagen die Garten-Architektur wiederherstellten. Und die Wucht des sogenannten Schicksals, das im Eröffnungsjahr 1997 in Gestalt des Oderhochwassers sogleich fast alles erneut zunichte gemacht hatte? Ebenfalls zu korrigieren durch menschliche Tatkraft und den Willen zu Daseinsfreude und Schönheit: Wurde der Garten eben noch einmal wiedererweckt und neu eröffnet! Wie tröstlich, denkt man, während rechts und links, hinten und vorn vergnügte Spaziergänger, Liebespaare und Familien Selfies machen vor den Wunderwerken von Menschen erdachter Natur.


Wie tröstlich, dass es das also auch gibt – ein sanftes DENNOCH gegenüber all den wechselnden, immer derart einfallsreichen Fieberschüben von Hass, Destruktion, Abgrenzung, Paranoia und ideologischer Hybris. Sollte man jemals in Gefahr sein, verzweifeln zu wollen - ein Besuch im Japanischen Garten, dieser berückenden Symbiose aus Rationalität und Sinnlichkeit, wäre eine gute Medizin.

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Sonntag, 1. Mai 2016

Hallo. Hier Welle Erdball!



Und auch das ist einer jener Geschichten, die vergessen wären, gäbe es die Bücher nicht. Mit der Tram Nr. 17 vom Kaufhaus RENOMA (dem früheren Wertheim) hinaus ins beinahe Grüne und hinein ins schöne Gebäude von Radio Wroclaw. Während der Fahrt wieder einmal Lektüre von Roswitha Schiebs wunderbarem "Literarischen Reiseführer Breslau". Denn das Haus, in dem ich ab jetzt jeden Monat eine Radio-Kolumne für den Berlin-Brandenburgischen Sender RBB aufnehmen werde, beherbergte von 1925 bis 1933 die damals berühmte"Schlesische Funkstunde". Unter der Ägide ihres Literarischen Leiters Friedrich Bischoff kamen hier Schriftsteller wie Erich Kästner und Klabund zu Wort, konnte Walter Mehring "Sahara. Eine Reise in Hörbildern" präsentieren, schwärmte der Regisseur Max Ophüls vom guten Geist des Ortes: "Der Sender lebte und blühte auf, lebte immer lebendiger und wurde einer der besten der Welt."  Friedrich Bischoff gilt bis heute als einer der Väter des modernen Hörspiels, der mit allen technischen Finessen der damaligen Zeit arbeitete und Programmfolgen entwarf, deren Namen noch immer Dynamik und Weltoffenheit evozieren: "Hallo. Hier Welle Erdball!"  Als könnte es auf immer so weiter gehen,  in einem liberalem Ambiente mit künstlerischer Freiheit …

Dann kam das Jahr 1933, Friedrich Bischoff wurde als angeblicher "Kulturbolschewist" fristlos entlassen, von der Gestapo inhaftiert und im "Breslauer Rundfunkprozess" schließlich sogar der"Korruption und Verschwendung" angeklagt. Nach dem Krieg wurde er in Westdeutschland Intendant des Südwestfunks.

Und heute? Neben den Eingangssäulen die Erinnerungstafel an einen, der dann nach dem Krieg die Zuhörer ebenfalls überraschte und erfreute: Der Chor-Dirigent Edmund Kajdasz (1924-2009), von dem es über 4000 Aufnahmen seiner Arbeit gibt, viele hier bei Radio Wroclaw aufgenommen.

Drinnen im schallgedämpften Studio radebreche ich mit dem freundlichen älteren Techniker eine Art Denglisch, die Standleitung nach Berlin kommt zustande: ein kurzes Interview, dann der einzulesende Text. Draußen vor dem Fenster das Frühlingslaub der Bäume, Morgensonnenlicht. Als wäre auch unsere Zeit, unsere gute, friedliche europäische Gegenwart, für immer und ewig gemacht. Illusionen, die (noch) die Realität auf ihrer Seite haben. Vielleicht ist das ja das Beste am Aufenthalt in dieser Stadt: Diese Entdeckung von Tiefenschichten und Brüchen, von historischer Existenz und Endlichkeit.

Dann kommt da drüben auch schon die 17 angezuckelt, ich muss mich mit dem Straßeüberqueren beeilen, vorher aber noch ein Foto-Blick auf jenen winzigen Bronze-Zwerg, der auf den Steinstufen neben dem Eingang hockt und ein Mikrofon zu halten scheint. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte – Fortsetzung folgt.


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