Samstag, 30. Juli 2016

Erinnerungen bewahren, neugierig bleiben. Ein Nachmittag bei Renate Zajączkowska

Auf dem Weg vom Stadtzentrum hinaus in die Ulica Saperów zeigt der Taxifahrer plötzlich linkerhand, auf den Vorplatz des Sky Tower. „Sehen Sie die Skulptur da, die zerfließende Uhr? Original-Dali! Hat hunderttausend Euro gekostet. Ganz schön teuer die verrinnende Zeit, haha …“

Der ältere Mann spricht ein wenig deutsch, und als ich ihm auf Nachfrage von meinem Blog erzähle, sagt er: „Wissen Sie, wer hier oft auf meinem Rücksitz gesessen hat? Unser Tadeusz Różewicz! Also geben Sie sich Mühe, auch wenn dieser Block keine Lyrik beinhaltet.“ „Blog …“ „Nu ja oder eben so, junger Mann …“


„Tja, die verrinnende Zeit …“, wiederholt Renate Zajączkowska mit klarer Stimme, als ich ihr die Episode erzähle. Die 1931 in einer deutschen Familie in Gleiwitz Geborene kam in den fünfziger Jahren zusammen mit ihrem polnischen Ehemann nach Wrocław; seit über 25 Jahren ist sie im Vorstand der Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaft (DSKG) tätig, die sie seit acht Jahren auch leitet. Obwohl ihr die knarrende Holztreppe in der altehrwürdigen kleinen Villa in der ruhigen Ulica Saperów manchmal zu schaffen macht, wirkt die inzwischen 85-jährige mindestens ein Jahrzehnt jünger.




„Danke für´s wohlfeile Kompliment“, sagt Frau Renate mit trockenem Humor und stützt sich auf ihren Gehstock, „aber so langsam bin ich die einzige, die sich noch an Vorkrieg, Krieg und Nachkriegszeit erinnert, während mit vielen, die sterben und zeitlebens kaum sprechen wollten, auch die Geschichten verloren gehen – unwiderruflich.“ So etwa jene einer 1945 blutjungen Frau, die in der Apokalypse der „Festung Breslau“ die 1677 in der Krypta der gotischen Gymnasial-Kirche St. Matthias beigesetzten Gebeine von Angelus Silesius heraustragen und an anderer Stelle wieder eingraben musste. „Erst Jahrzehnte später fand sie die Kraft, darüber zu berichten, erinnerte sich nun aber nicht mehr, wo genau die Gebeine des berühmten Barockdichters vergraben lagen.“

Während Renate Zajączkowska sich bestens zu erinnern scheint, damit jedoch äußerst konzentriert umgeht. Also keine privaten Details, als sie dann unten in der weiträumigen Bibliothek bei Kaffee und Kuchen einer jener deutschen Besuchergruppen Rede und Antwort steht, die öfters in der kleinen Villa zu Besuch kommen – Abgeordnete oder ganz einfach politisch interessierte Wrocław-Besucher, Menschen aller Generationen.
Wie professionell sie das macht: Ein kurzer Abriss der Geschichte der deutschen Minderheit in Polen, präzis und ohne jede Sentimentalität. Nur das nachlassende Interesse deutscher Kirchen an den hier in Polen lebenden Deutschen und das fast automatische Abbestellen der zweimal im Jahr erscheinenden „Niederschlesischen Informationen“, sobald in Deutschland ein Schlesier gestorben ist, macht sie ein wenig melancholisch. „Aber gut, das ist der Lauf der Zeit. Die Kinder der Ehemaligen sind nun selbst schon oft Großeltern und haben andere Prioritäten, deren Kinder und Enkel wiederum andere – sinnlos, darüber zu greinen.“ Nur einmal an diesem Sommernachmittag wird ihre Stimme scharf, als einer aus der Besuchergruppe wissen möchte, wie „die Polen“ im Laufe der Jahrzehnte mit „den deutschen Tätern hier“ umgegangen seien.

„Wer hier geblieben ist, war doch gewiss kein Täter! Die, die‘s waren, haben sich doch beizeiten in Richtung Westen abgesetzt!“ Frau Renate, die Komplexität ihrer Biographie verteidigend, während ihre polnische Mitarbeiterin, die im Hintergrund die letzten Details am Kaffeetisch richtet, erst den Kopf schüttelt und mir dann mit schelmisch zugekniffenem Auge das Zeichen des hochgestreckten Daumens macht: Nicht auf den Mund gefallen, unsere Renate!

Was Frau Zajączkowska hier in der Öffentlichkeit nicht erzählt, steht in dem Buch Vergangenheit, die man nicht vergessen kann, das letztes Jahr mit Hilfe des bundesdeutschen Generalkonsulats hier in Wrocław erschien – auf deutsch und polnisch. Auch ihre Lebensgeschichte findet sich in diesem Buch, jedoch – wie auch jene anderer aus der deutschen Minderheit – leider etwas stilistisch ungeschickt und 1:1 aus Gesprächsprotokollen übernommen. Wer von Frau Renate also nur liest und sie weder sieht noch hört, bekommt wahrscheinlich nur einen unvollständigen Eindruck von einer starken Frau, die auch heute noch aktuelle Geschehnisse glasklar analysiert und genau jene Würde der Selbstdistanz hat, die womöglich ja auch eine Strategie ist, mit schlimmen Erfahrungen umzugehen. „Schön, was Sie da sagen mit ‚vollständig‘ und ‚unvollständig‘. Stellt sich nur die Frage, was mein Privates die Leute angeht …“ Ein trockenes Lachen, ein Beiseitewischen der Bemerkung.




Und dennoch herrscht im Hause – jetzt, wo die Besuchergruppe wieder verschwunden ist – keine lähmende Stille, eher frohgemute Umtriebigkeit. Treppauf-treppab, da ist ein junger Deutscher vom Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen, da sind gleichaltrige Polinnen – um Papiere und Projekte geht es, um Kultur- und Sprach-Aktivitäten, zu planende Veranstaltungen, nicht zu vergessen die Sozialarbeit des finanziell nun keineswegs üppig ausgestatteten Vereins: Im sous-sol der Villa befindet sich auch eine Kleiderkammer, um bedürftigen Pensionären in Wrocław zu helfen. Wie sah wohl deren Leben aus?

Also doch noch einmal zurück zum Buch, wo Frau Renate detaillierter Auskunft gibt, wenngleich auch da jedes Pathos geradezu ostentativ meidend: Die erste Schulerfahrung mit sechs Jahren – alle sangen im Hof die deutsche Hymne, die sie nicht kannte und sich dafür schämte. Die 1945 einmarschierenden Rotarmisten, die sogleich die meisten Männer erschossen – „Wir mussten dann ihre Gräber graben“. Der Vater, der in Kriegsgefangenschaft kommt, aber bald zurückkehrt, die kleine Schwester, die nach dem Krieg eine polnische Schule besucht – „Ich kann mich daran erinnern, wie sie mit der Mutter in Streit geriet, weil sie sagte, dass Stalin ein guter Mensch sei, weil er die Kinder liebe und uns alles gebe.“ Die Eltern, die schließlich nach Deutschland auswandern und beide früh sterben. Renate, die dann in Wrocław außer ihrem polnischen Ehemann, der oft auf Dienstreise war, kaum jemand kannte. Erst als ihre Töchter konfirmiert waren, gab es die ersten Treffen mit den hiesigen ansässigen Deutschen – vom polnischen Teil der Familie akzeptiert. Dann nach 1989 die Arbeit für die DSKG, das Engagement für die Älteren und sozial Schwächeren, die Kulturarbeit für den Verein – bis heute. Punkt. Und keine Sentimentalitäten.

Am Ende – im Gespräch, nicht im Buch – aber dann noch dies: „Die Sache mit der doppelten Staatsbürgerschaft ist bereits für die Enkelgeneration gar nicht mehr so wichtig – Dank der EU. Aber als ich meinen Enkel fragte, für wen er bei der EM mitgefiebert habe, sagte er: ‚Mit dem Verstand für Deutschland, mit dem Herz für Polen.‘“

Renate  Zajączkowska aber hat sich noch etwas ganz Besonderes aufgehoben. Zum Abschied bekomme ich als Geschenk einen Gedichtband eines ehemaligen, 2012 verstorbenen DSKG-Mitglieds. Jene Eva Maria Jakubek mag literarisch vielleicht nicht ganz in der Różewicz-Liga geschrieben haben, aber wie berührend sind ihre tief empfundenen Verse, von denen die besten mitunter sogar ein wenig an Mascha Kaléko erinnern.
Zwei Dimensionen. Ich lebe in zwei Dimensionen/ der Sprache:/ die eine- vertraut,/ in die Wiege gelegt, / die andere – erkämpft./ im Zwange des Alltags./ Die eine – geliebt -/ die andere – verhasst …/ solange ich sie nicht kannte./ Dann stieß sie mir auf die Tür/ zu der anderen Welt, / die ich staunend betrat …/wie anders die Sitten, /die Kunst, die Kultur,/ die Geschichte -/ wer bin ich,/ sie zu verachten?/ Ihre Helden und Mythen, /die Traditionen-/ nun schon vertraut/ im Fliehen der Jahre. /Ich lebe in zwei Dimensionen -/ nicht nur der Sprache:/ hin und her schwebe ich/ auf unsichtbaren Steg -/ zuhause jetzt hier und dort.

Ist das nicht wunderschön? Eine Absage auch an jenen (Kultur-)Nationalismus, der nur das angeblich „Eigene“ schätzt (aber was wäre schon „das Eigene“, angeblich Unvermischte) und das „Andere“ verachtet. In den Versen der unbekannten Gelegenheitsdichterin – und in der Atmosphäre dieser kleinen Villa in der Ulica Saperów, in der ganz selbstverständlich deutsch und polnisch zu hören ist – scheint etwas anderes auf, eine gute Gestimmtheit, ein liedhafter Reim, der im Gedächtnis bleibt: 
„Man glaubt, es gab nur eine Liebe/ und eine Heimat – wo die Wiege -/ Oh nein – es gibt auf jeden Fall/ immer noch ein nächstes Mal …

„Freut mich, dass es Ihnen gefällt“, sagt Frau Renate. Und lächelt. Ein fester Händedruck zum Abschied. „Wenn Sie mal wieder hierher kommen wollen … gern. So manche Geschichten wären noch zu erzählen.“

Ganz gewiss werde ich hierher noch einmal zurückkommen. Vorbei am Sky Tower mit der Dali-Uhr und der geschmolzenen Zeit, die ja dennoch fortbesteht.
 

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Dienstag, 26. Juli 2016

„Vor dem Antlitz des Herrn singen und tanzen”

Ein Nachtrag zum Wochenende, voller Freude.

Ich war auf dem Rynek mit einem Filmteam aus Potsdam-Babelsberg verabredet, entsandt vom Deutschen Kulturforum östliches Europa, um meine Stadtschreiber-Aktivitäten zu dokumentieren. Kamera­ein­stel­lungen, Fragen der Lautstärke/des Lichts/der Blende/der Perspektive, Fragen der jungen Interviewerin Laura im sympathischen Team des alten DEFA-Hasen Uwe Fleischer, dazu meine Antworten. Aber dann, aber dann … Wie viel Mal musste ich meine Sätze wiederholen, weil von links plötzlich französischer Chorgesang zu hören war, ehe vom alten Salzmarkt eine Truppe junger Spanier mit wehenden Fahnen herantrabte, „Viva España” sang und „El Rey Jesús” – und ich wieder einmal über die Fähigkeit der Katholiken staunte, Gottes Sohn zum Sprössling der jeweils eigenen Erde zu machen. Heidnischer Tribalismus? Vielleicht, doch gleichzeitig auch das Antidot, das katholikós im altgriechischen Wortsinn – allumfassend, das Ganze betreffend, universell.



Denn wie jubelten sie einander zu, all diese Halbwüchsigen und jungen Erwachsenen, die tatsächlich aus der ganzen Welt hierher nach Wrocław gekommen waren, zur Auftaktveranstaltung der diesjährigen katholischen Weltjugendtage, die danach in Krakau fortgesetzt wurden. Umarmt die Italiener, begrüßt die Maltesen, ein Hoch auf Polen und Rumänen – und nichts da mit verschwitztem Klerikalismus, nichts da mit der herabwürdigenden Instrumentalisierung der Religion, wie man się in Deutschland bei den PEGIDA-Aufmärschen erlebt und in Polen in den Sendungen von „Radio Maryja”. Stattdessen die Realität gewordene Aufforderung des Psalmisten – „Gedenke Deines Schöpfers in Deinen Jugendtagen”. (Inzwischen sind auch bayerische Fahnen zu sehen, dazu vergnügte Christen aus dem noch ferneren Japan und Brasilien.)


Und die Filmcrew und ich ihnen hinterher. Gut, ich sollte zeigen, wie pudelwohl ich mich in diesem weltoffenen Wrocław-Breslau fühle, in der (mindestens) Doppelnamen-Stadt mit den zig Vergangenheiten. Aber jetzt mit diesem zusätzlichen Hintergrund, der tatsächlich alles toppt? Becircender hätte sich in diesem Moment die Stadt gar nicht präsentieren können

Vorbei an der Universität – rechts das pathetische Fechter-Denkmal, links der alltagstauglichere Bronzezwerg mit seinem Regenschirm – hinüber auf die Sandinsel, zum Denkmal des wunderbaren, tapferen Kardinal Kominek, der (so stellt es sich zumindest meine Agnostiker-Phantasie vor), irgendwo in den unerklärlichen Weiten von Zeit und Raum sich jetzt gewiss ebenso freuen mag über die Freude der nach Wrocław geströmten jungen Christen, über ihren Frohmut und ihre innere und äußere Freiheit, die keiner reaktionären Muffigkeit bedarf.

Selbstverständlich ist es dann eine Herausforderung, in die Potsdamer Kameras ein paar Sätze über den Visionär und Hirtenbriefverfasser von 1965 zu sagen, wenn rings um einen die Töchter und Söhne Nippons Jesus-Gesänge auf Japanisch anstimmen, doch weiterhin: Wie erleuchtet plötzlich alles ist von unprätentiösem Gutsein und einer Menschlichkeit, so ganz ohne hochtrabende Rhetorik!



Dann weiter im Gewühl, hinüber zur Dom-Insel. Vor der Kathedrale eine Bühne, darauf junge Frauen, die mit religiösen Pop-Rhythmen Jesus preisen, und zwar nicht der erstarrten Leidensfigur, sondern dem Menschenfreund bei der Hochzeit von Kana – aufmunternde Gedanken und gute Getränke und reichlich Speisen für alle! Im Publikum: Schwarze und Weiße, Minirock-Schönheiten mit Papst-T-Shirts. (Und dieser Gedanke: Junge Christinnen, die sich von keinem unverschämten Pfaffen oder Parlamentspolitiker sagen lassen werden, wie sie mit ihrer Seele und ihrem Körper umgehen sollen.)



Inzwischen habe ich mich ein bisschen von der Crew entfernt, denn dieser Moment braucht kein Kamera-Zeugnis. (Und soll trotzdem hier festgehalten werden.) Meine Mit-Begeisterung, obwohl ich doch religiös eher unmusikalisch bin und mir die ethischen Konsequenzen des Glaubens wichtiger scheinen als dieser selbst. Aber vielleicht gerade deshalb diese Wertschätzung für eine judäo-christliche Gestimmtheit der Reflexion und des Zweifels, der Lebensverantwortlichkeit und Interpretationsfreude. Denn was singen die jungen Polinnen da plötzlich auf der Bühne, hinein in den Jubel aus vier Kontinenten? Hava nagali hava, Abraham Zvi Idelsohns chassidische Hymne, die Lasst uns glücklich sein bedeutet! Und gleichzeitig mehr ist als nur ein Lied. Hebräisch im Schatten einer Kathedrale, im Schoss einer Religion, die das humane Erbe jenes Rabbi Jeschua aus Nazareth Jahrhunderte lang beinahe ausgelöscht hatte in Scheiterhaufen und Hassrede. Und nun dies! Und nun das Lied sogar in polnisch, hinein in diesen Sommertag, in die Gassen und über die Wasser der Oder! Tränen der Rührung, unsagbar wertvoller Moment. Weil es das Gute ja doch gibt, die Zurückweisung von Nihilismus und Fanatismus. Weil der Glaube (zumindest dieser, zumindest in dieser Tradition) kein Prügel ist, um auf Anders- oder Nicht-Gläubige einzuschlagen. Weil all die tausenden jungen Leute hier und die umherstreifenden Älteren in diesem Augenblick etwas leben, was unendlich kostbar ist.





Auch wenn mir dann – zurückgekehrt zum Filmteam, das nun ebenfalls ganz gerührt wirkt – schlussendlich dann doch kein Bibelvers einfällt, sondern jene Zeile eines Czesław Miłosz-Gedichts, das die erotische Erinnerung an eine inzwischen längst steinalt gewordene Jugendfreundin birgt und mit genau diesen Zeilen der Dankbarkeit das rein Irdische transzendiert: „Vor dem Antlitz des Herrn singen und tanzen”. Ja, so ist es möglich, so soll es sein.


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Dienstag, 19. Juli 2016

Rondo Veneziano? Rondo Reagana!


Notizen, wie sie Freude machen:

Aus Richtung der Jahrhunderthalle kommend, in der Sommerhitze in der Tram Nr. 4 eingedöst und erst wieder wach geworden, als die Stara Odra/Alte Oder längst überquert ist und die Wagen im Gleisgewirr ins Ruckeln kommen. Nicht, dass die Tram ihre Richtung geändert hätte. Nicht, dass es da draußen etwas zu sehen gäbe, da das vorstädtische Grün verschwunden ist und unansehnlichen Häusern, viel Beton und Asphalt Platz gemacht hat. Und die gleiche Station, deren Namen ich bereits beim Hinfahrt auf dem Fensterschild im Wageninneren gesehen hatte: Rondo Reagana.

Da hatte ich mich noch vage über die seltsame Namensgebung gewundert. Rondo Reagana? Eine Hommage auf´s Reagenz-Glas? Eine Wrocławer Version des Rondo Veneziano? Eine Anspielung auf Kasimierz Brandys‘ wunderbaren Roman Rondo?

Während die Tram zur Jahrhunderthalle hingezuckelt war, hatte ich – die Assoziationsmaschine läuft halt immerdar – sogar an die DDR-Kaffeesorte RONDO gedacht, die während der „Kaffeekrise“ 1977 plötzlich viel teurer geworden war – das Kind von einst hatte den ärgerlichen Unterhaltungen der Erwachsenen gelauscht. Nach 1989 kam dann heraus, wie die SED das Problem behoben hatte: Blaue Bohnen in Gestalt von Waffen für Äthiopiens Diktator Mengistu, der im Gegenzug der DDR verbilligte braune Kaffee-Bohnen schickte.

Doch nun auf der Rückfahrt, draußen hinter dem schlierigen Tram-Fenster der vollständige Stationsname: Rondo Ronalda Reagana! Wow … Dadaistische Alliterations-Orgie, in der in anderen Sprachen feminin anmutenden Wortbeugung womöglich sogar ein heißer Gag-Kandidat, sollte Tony Kushners Reagan-kritisches AIDS-Stück Angels in America noch einmal aufgeführt werden.

Rondo Ronalda Reagana …
  Das zweite Wow! (längst hat die Tram die Grunwaldzki-Brücke überquert) aber ist eines des Respekts: Chapeau einer historischen Erinnerung, die – anders als in Deutschland – den Zerfall der Sowjetunion nicht allein mit Gorbatschows Rückzugspolitik assoziiert, sondern mit Ronald Reagans nicht gänzlich risikoloser, aber letztlich erfolgreicher Politik, das rote Reich zu Tode zu rüsten und auf der Westseite der Berliner Mauer jene Worte zu rufen, die bundesdeutsche „Realisten“ damals derart bespöttelt hatten: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall!“

Wie gut also, dass es dieses Rondo gibt – als Widerhaken auch für ein allzu politisch korrektes deutsches Bewusstsein, das solch ein Rondo wahrscheinlich noch immer für einen Skandal hält. Freilich wäre auch daran zu erinnern, dass der gleiche Ronald Reagan, der für Ostmitteleuropa nur Gutes gebracht hatte, gleichzeitig in Lateinamerika jene üblen faschistoiden Oligarchen-Regimes unterstützte, die Gewerkschafter, Intellektuelle und Priester – ergo die dortigen Walesas, Kurons, Michniks und Popieluszkos – entführen und massakrieren ließen. (Genau diese Ambivalenzen aushalten, ohne aufzurechnen/zu relativieren/ in eindimensionaler Lesart verharren …)

Rondo Ronalda Reagana …Gab mir zu denken, erfreute und provozierte zugleich. Und beinahe hätte ich  darüber vergessen, an der Swidnicka auszusteigen, um mir in der „Bar Barbara“ einen schönen kühlen Eiskaffee zu gönnen.
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Freitag, 15. Juli 2016

Stadtschreiber on tour.
Nicht „16 Uhr 50 ab Paddington", sondern 16:29 ab Wrocław Główny: Der Kulturzug „Berlin-Wrocław“ setzt sich in Bewegung, nimmt sich dafür aber sehr viel Zeit, und in Legnica erst einmal Auszeit. Dann zuckelt er weiter, ohne Klimaanlage, die Sitze mit der Beinfreiheit eines Kaninchenstalls, aber wir sind ja nicht zum Meckern hier, sondern zum Lesen, d.h. zum Vortragen eigener Texte.



Uwe Schimuneks 2014 geschriebener, jedoch 1854 auf selbiger Zugstrecke spielender »Criminalroman« Tragödie im Courierzug (Jaron Verlag Berlin) bleibt deshalb erst einmal aufgeschlagen liegen auf Seite 213, wo es heißt: „‘Das ist Breslau!‘ Poniers Ruf drang in Christian Philipp von Gontards Gedanken, als komme er aus einer anderen Welt.“ Da war im Roman bereits ein Mord geschehen, während hier im „Kulturzug“ alles friedlich ist, wenngleich zwei schicke junge Damen neben mir dies wispern: „Kulturzug? Ha! Da hat wohl eher jemand eine alte Bundesbahn-Möhre unter diesem Titel verscherbelt und macht nun bestimmt trotz des unschlagbaren Hin- und Rücktickets von nur 38 Euro dicke Kohle.“ Eine Verschwörung, ein neuer Krimi-Plot gar auf dieser Zugstrecke Breslau-Berlin, die an den Sommerwochenenden von eben jenem Zuglein befahren wird, ohne dass man in Poznań umsteigen muss?

Ach was, aber nein! Wo im Kulturzug doch tatsächlich Kultur geboten wird und Stadtgeschichte – zweisprachige Plakate und Sitzschoner erinnern an berühmte Breslauer und Wrocławer, während in den Abteilen immer etwas los ist. Diesmal mit im Zug: Der Cellist Nikolaus Herdieckerhoff, der seinem Instrument wunderschöne Töne entlockt, stärker (zumindest gefühlt stärker) als alles Gleis-Gerumpel. Gegen dieses muss dann auch ich anreden/anlesen, aber da die zehn Zuhörer ebenso verschwitzt und ermüdet sind wie ich, treffen wir uns auf genau dieser Ebene spätnachmittäglichen sommerlichen Abgeschlafftseins, während draußen idyllische Landschaft vorbeizieht und ich über meine Breslau-Wrocław-Erfahrungen berichte. (Es stellt sich heraus, dass selbst ältere Stadt-Aficionados noch nie etwas von diesem Blog gehört haben.)




Um die Verspätung wenigstens ein bisschen aufzuholen, legt der Zug dann hinter Cottbus zu. Jetzt wäre Zeit, mit der Krimi-Lektüre fortzufahren, doch schiebt sich die Erinnerung an Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel davor. Der schlesische Schnellzug aus Breslau, der Polterkasten … Schließlich kurz bei Friedrichshagen das Verhängnis: Thiels harsche zweite Frau gibt nicht auf den kleinen Sohn acht, der sich den Gleisen nährt und … Und zu Tode kommt, während die Stiefmutter samt ihres eigenen Kindes noch in selbiger Nacht vom wahnsinnig gewordenen Bahnwärter erschlagen wird. Puh … Durchatmen und die Glieder recken, als der Zug schließlich am Ostkreuz eintrudelt.

Ein paar Tage später dann – und dies ausgerechnet in „meinem“ Berliner Wohnviertel – zu den „Reinickendorfer Sprach-und Lesetagen“, die hier eine „Breslauer Nach(t)Lese“ veranstalten. Sogar Herr Jan Wais von der Wrocławer Stadtverwaltung ist gekommen, um uns allen ein Grußwort zu sprechen.




Zusammen mit dem Autor dieser Zeilen mit von der Partie: Wolf Kampmann, dessen Breslau-Roman Schuhbrücke ein absolut packendes, detail-präzises Familienepos ist, während die Texte der jungen Wrocławer Lyrikerin Agnieszka Wolny-Hamkalo eher auf Reduktion setzen und Nadia Szagdajs Krimireihe Die Chroniken der Klara Schulz das nicht zuletzt auch polnische Gegenwarts-Interesse am deutschen Breslau bedient. Schöne Koinzidenz: Die Übersetzerin der Krimi-Trilogie ist selbst Schriftstellerin und trägt (beinahe) den gleichen Namen wie die Roman-Protagonistin: Paulina Schulz.

Besonders eindringlich aber die Wrocław-Erinnerungen des Holocaust-Überlebenden Anatol Gotfryd, der später nach Westberlin geflüchtet war – diese Passagen über eine ganz andere, gezwungenermaßen existentiellere Mobilität gelesen vom Schauspieler Uwe Neumann. (Und unsereins hatte doch tatsächlich schon herumgegrummelt, nur weil es im verdienstvollen und dazu auch noch preiswerten Kulturzug zwar Mineralwasser, aber keine Klimaanlage gab? Shame on yo u .)  
 
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Montag, 11. Juli 2016

Tosca in Breslau.


Die Prozession in der römischen Kirche Sant´Andrea della Valle, abgehalten im Juni 1800 ist … eine „Prozession“ in der hiesigen Magdalenenkirche, ehrfürchtiges Schauern verursachendes Ende des ersten Aktes von „Tosca“. Eine geniale Idee: Drei unterschiedliche, aber kongeniale Schau- und Spielplätze für Puccinis berühmtes Werk. (Im Begleitheft liest man, dass Wrocławs Oper dies bereits 1998 umgesetzt hatte: Zwar nicht an Originalschauplätzen und zur Original-Uhrzeit wie in der legendären italienischen Fernsehproduktion von 1992, so aber doch an ebenso erhabenem Orte:
Magdalenenkirche, Leopoldinum, Liebichshöhe.)

Was für einen Fest für Augen und Ohren: Der Maler Cavaradossi (stimmstark gesungen von Igor Stroin) zwischen den hohen, himmelwärts aufragenden Pfeiler den geschundenen Widerständler Angelotti (beachtlich: Maciej Krzysztyniak) versteckend und danach seiner Tosca (sehr theatralisch á la Original-„Tosca“-Uhraufführungszeit anno 1900, doch mit wunderbarem Timbre und Arien-Könnerschaft: Anna Lichorowicz) ewige Liebe schwörend. Doch die Häscher sind bereits unterwegs. (Und zücken dann draußen, auf dem abendlichen Weg hinüber zur Oper und zum zweiten Akt ihre Smartphones, wenngleich weiterhin bekleidet mit sinisterem dunklem Wams.)



Die für diesen Abend zur säkularen kleinen Gemeinde gewordenen „Tosca“-Besucher setzen sich ebenfalls in Bewegung, doch kaum ein Auge für den Trubel am Rynek, sondern noch immer ergriffen von der Wucht der Prozession, deren Teilnehmer zum Chor der städtischen Oper gehören – aber doch für einige große Augenblicke aus einer anderen Welt zu sein schienen, aufgetaucht aus den Tiefen römischer Vergangenheit.

Der zweite Akt, das intrigante Geschehen im Palazzo Farnese darstellend, dann zwar wieder opern-konventionell, doch in der Publikums-Gestimmtheit beinahe ebenso aufregend: Kommt man doch – wie auch Tosca – tatsächlich gerade von draußen und findet sich nun wieder in prunkendem, ein wenig einschüchterndem Interieur.


Und dann, die berühmteste Arie der Oper: „Vissi d´arte, Vissi d´amore“. Anna Lichorowicz ist weder Grace Bumbry noch die Callas, aber was sie an diesem Abend stimmlich leistet, ist formidabel und hat den Applaus wahrlich verdient.
Alsdann hinüber in den lauschig schönen, nach Kopernikus benannten Park, wo die rückwärtige, klassizistische Terrasse des Puppentheaters tatsächlich an die Plattform der Engelsburg gemahnt.



Cavaradossis Abschieds-Arie, in welcher die tragisch dräuende Musik bereits wissender ist als derjenige, der sie singt (und noch hofft). Mit Inbrunst wallen die Töne in den nun bereits nächtlich dunklen Park, rollen über den Stadtgraben, verbreiten sich im sommerlichen Grünschwarz der Baumkronen. (An anderen Abenden hörte ich die Arie sogar noch auf dem Balkon meiner Stipendiatenwohnung, während der Ruhepausen der lärmigen EM-Spiele.) „E lucevan le Stele“ singt Igor Stroin, und erneut scheint ein Schauer durch die schweigende Zuhörerschaft zu gehen, denn wir wissen ja, was der Maler und seine geliebte Tosca noch nicht einmal ahnen: Nicht als Liebespaar werden sie das Gefängnis verlassen, sondern in der doppelten, separierten Einsamkeit des Todes. Statisten in historischen Kostümen und Karabinern patrouillieren über den Kieswegen, während oben auf der Terrasse das Verhängnis seinen Lauf nimmt.


Und dann stehen sie dennoch wieder alle vereint am bröckeligen Treppenrand – Sopranistin, Tenor, Bass und Bariton (der Schurke Scarpia mit dem Charisma von Mariusz Godlewski), Hand in Hand, verschwitzt und glücklich unser aller Dankapplaus entgegennehmend. Was für ein Abend, was für Stunden des Genusses zwischen 18 und 23 Uhr an diesen drei zaubrischen Orten der Stadt!
(Weitere Aufführungen noch am 15., 16. und 17. Juli)
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Mittwoch, 6. Juli 2016

Geschichten, die nicht verloren gehen. Ein Nachmittag mit Bente Kahan.

in memoriam Elie Wiesel (September 1928 – Juli 2016)


Die Davidsterne wehen im Sommerwind, der von der ehemaligen Wallstraße, der heutigen Ulica Włodkowica, in den Hof der Synagoge Zum Weißen Storch dringt. Genau dort wehen die Davidsterne, wo einst die Nazis ihren Umschlagplatz hatten, Deportationssammelort für die zum Gastod bestimmten Breslauer Juden. Am Yisrael Chai! 

„Auch Elie, den ich seit meinen Kindertagen kenne, ist es mit zu verdanken, dass es hier wieder eine sichtbare jüdische Präsenz gibt.“ Auf einem studentisch zerschlissenen Sofa in der Küchenecke ihrer Stiftungsräume sitzt die Norwegerin Bente Kahan und versprüht Charme und Elan. „Elie Wiesel war der Schulkamerad meines Vaters im rumänischen Sighet gewesen, und als mir die Idee kam, aus der maroden Synagoge Zum Weißen Storch dieses Wrocław Center for Jewish Culture and Education zu machen, hatte mir auch sein Referenzbrief geholfen. Aber seien wir ehrlich: ein wenig geholfen, denn obwohl Elie allen möglichen Leuten schrieb, dass es mir ernst war mit meinem Projekt, tröpfelte die Unterstützung eine Weile vor sich hin, bis schließlich …“

Weshalb hört man Bente Kahan so gern zu? Weshalb langweilt es bei der Bente Kahan Foundation eben nicht, von Projektgeldern und Sponsoren zu hören, von scheinbar unüberwindlichen, aber schließlich doch überwundenen finanziellen/strukturellen/logistischen/bau- und betriebs- und stiftungsrechtlichen/architektonischen/organisatorischen und Überhaupt-Schwierigkeiten? Weil die modesten Räume der Stiftung in keinem Verhältnis stehen zu ihrer Arbeit, der Riesenleistung, aus einer halben Ruine wieder ein Schmuckstück gemacht zu haben, Gebetsort zu den Hohen Feiertagen und ansonsten frei zugänglicher Ausstellungs- und Konzertraum. 


Weil Bente Kahan in ihrer freundlichen, ironisch-direkten Art pointiert erzählt, wie städtische Unterstützung und ein norwegischer Found (der den Löwenanteil übernimmt) es schließlich ermöglicht hatten, dass der einst von den Nazis als Autowerkstatt und Lager für geraubtes jüdisches Gut missbrauchte Ort wieder zu einem Besuchermagnet geworden ist – zu einem Mehr-als-Museum, einem Ort der Symbiose zwischen religiösen Riten und historischer Reflexion, Theateraufführungen und Musikabenden. Und undenkbar all das ohne den Elan dieser Bente Kahan mit dem kecken Haarschnitt und einem mitreißenden Lachen, das ein bisschen an die junge Wencke Myhre erinnert. Schließlich schreibt und spielt die Frau ihre Theaterstücke selbst, geht mit ihren Mitarbeitern in Schulen, erreicht so Abertausende. Hat nicht nur die Dauerausstellung der Geschichte der schlesischen Juden initiiert, sondern auch Temporäres wie jene Bild-Text-Präsentation jiddisch schreibender Dichterinnen und Arbeiteraktivistinnen, Biographien des 20. Jahrhunderts, die sie dem Vergessen entrissen hat. Und natürlich singt sie, gibt Konzerte. Songs auf deutsch und jiddisch und englisch, auf Ladino und hebräisch sowieso. Und eine ihrer CD´s versammelt vertonte Gedichte des Wrocławer Lyrikers Tadeusz Różewicz.


Nicht unwichtig: Von all dem erzählt Bente Kahan nicht etwa mit der dünnlippigen Man-muss-doch-etwas-tun-Verbitterung, die mitunter deutschen GeschichtsaufklärerInnen eignet in derem „Engagement für das jüdische Volk“. Bente jedoch, norwegische Jüdin mit einem quer durch Europa reichenden, nicht zuletzt chassidisch geprägten Stammbaum, hat solch verhärmte Konvertiten-Attitüde nicht nötig. Bei aller Tragik der Vergangenheit, denn es geht in der Ausstellung und in den Geschichtsprojekten der Synagoge und der Foundation ja nicht allein um die Shoa, sondern auch um die antisemitische Vertreibungswelle von 1968: Die 1958 in Oslo geborene Künstlerin scheint ihre Arbeit auch als (beinahe sportliche)  Herausforderung zu begreifen: Was ist stärker – die Schwerkraft des Vergessens oder die Kraft der Erinnerung, die zum Teil deprimierenden Mühen des bürokratischen Alltags oder die Freude, wenn es Dank von Sponsoren weiterhin gelingt, Juden und Nichtjuden ins Gespräch zu bringen, Geschichten und Biographien zu bewahren, an die Shoah zu erinnern und doch nicht darauf fokussiert zu bleiben, sondern auch die jahrhundertealte Geschichte der Juden in Schlesien zu erzählen. 


Aber … Wie kommt eine Norwegerin ausgerechnet nach Wrocław? (Wieder dieses helle Lachen, die ohnehin sonnenüberfluteten, vor Papieren überquellen Stiftungsräume noch lichter machend.) „Ich hatte an New Yorker und Berliner Bühnen gespielt, im Habima Theater in Tel Aviv, aber was mir immer am Wichtigsten war, war die Verbindung zwischen Kunst und Menschenrechten. Ehe ich mich ab 1990 hauptsächlich der jüdischen Thematik zuwandte, hatte ich in Norwegen Stücke über iranische Flüchtlinge und dergleichen gemacht. Und spürte bei allem Erfolg doch mitunter eine Art gläserne Wand, eine nördliche Irritation angesichts dieser schwarzhaarigen Frau mit ihrem etwas anderen Elan und auch Humor. Na, und dann lernte ich Mitte der achtziger Jahre meinen jetzigen Mann kennen. Vielleicht haben Sie ja von ihm gehört und seinen Antiregierungs-Reden samstags auf dem Rynek. Ich halte mich da selbstverständlich raus und konzentriere mich auf die Stiftungsarbeit, aber …“ 

Aber selbstverständlich ist ihr Ehegatte, gegenwärtiger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, stadtbekannt: Der wuchtig wirkende Mann mit dem schönen Namen Aleksander Gleichgewicht ist einer der Hauptredner bei den Demonstrationen, die vor der Gefahr eines neuen Illiberalismus warnen. Steinaltes Geständnis des antitotalitären jüdischen Intellektuellen: Er und sein heute 97 jähriger Vater – auch dieser ein Shoah-Überlebender – hatten die „Säuberungen“ von 1968 erlebt, waren im Wrocław der achtziger Jahre bekannte Solidarność-Aktivisten und kamen schließlich als politische Flüchtlinge nach Norwegen. Wo Aleksander dann Bente kennen lernte, heiratete und nach dem Umbruch von 1989 überzeugen konnte, mit ihm und den gemeinsamen Kindern nach Wrocław zu übersiedeln. Apropos: „Viele der Freunde meines Mannes, die zuvor in der Solidarność-Illegalität gewesen waren, trugen nun Verantwortung in der Stadt – und waren dann ebenfalls gute, hilfreiche Geister, um zumindest die Synagoge Zum weißen Storch wieder lebendig zu machen, da die Nazis ja die unvergleichlich größere, Neue Synagoge am 9. November 1938 bis auf den Grund niedergebrannt hatten.“


Und so ist es jetzt Realität, dass im Hof wieder die Davidsterne wehen. Aus einem der Restaurants, spezialisiert auf osteuropäisch-nahöstlich jüdische Küche, dringt Céline Dions wohl schönstes Chanson, geschrieben von Jean-Jacques Goldman: „La Mémoire d´Abraham“, gefolgt vom rhythmisch packenden „I´m alive“. Ja, die Davidsterne wehen wieder in Wrocław, im ehemaligen Breslau. Zu danken dem Engagement von Bente Kahan und ihren Mitstreitern. Zu danken aber auch jenem Brief, den einst Elie Wiesel, Schulkamerad von Bentes Vater, in alle Welt gesandt hatte. Zichrono livracha. Möge sein Gedenken ein Segen sein. 
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Samstag, 2. Juli 2016

Wrocław – San Sebastián. Zwei Partnerstädte. Und zwei Erfahrungen, die leider separat bleiben.


Eine jeweils ost- und westeuropäische Stadt im Status der Kulturhauptstadt zusammenzuspannen, riecht nach Proporz und könnte dennoch Erkenntnisgewinn bringen – jenseits der peinlichen, jede Intelligenz beleidigenden Sprechblasen von „kreativem Dialog“ oder ähnlichem Zeug. Könnte

Als voriges Jahr Pilsen und Mons die beiden Partnerstädte waren (ich hatte sie für eine Zeitungsreportage besucht), schien die historische Verbindung auf der Hand zu liegen. Pilsen war im Frühjahr 1945 von amerikanischen Truppen befreit worden, die sich später jedoch zurückzogen. Mit der Sowjetarmee kam dann auch die Geschichtslüge: Allein die Sowjets hätten die Stadt befreit und nicht etwa weiße und schwarze GI´s, die den für einen kurzen historischen Moment so  glücklichen Pilsenern das Swing-Tanzen auf dem Rathaus-Platz beigebracht hatten. War die zweite Befreiung – jene im Winter ´89/90 – dann nicht auch der NATO mitzuverdanken, deren militärisches Hauptquartier sich ja im belgischen Mons befindet? Im Jubiläumsjahr 2015 hätte sich solch eine Erinnerung geradezu angeboten. Hätte. Denn den belgischen und tschechischen „Kulturmanagern“ war selbstverständlich nichts Anderes eingefallen als ihre üblichen „Projekte/Video-Installationen/Work in Progress“ durchzuziehen, das absolut Irrelevante von EU-Fonds finanzieren zu lassen und großsprecherisch zu präsentieren. Erneut eine vertane Gelegenheit.

Umso spannender die Verbindung Wrocław – San Sebastián. (Dachte ich.) Als sich Wrocławs Opposition mit den subversiven Aktionen der „Orangenen Alternative“ gegen die Zumutungen des kommunistischen Regimes wappnete, waren es in San Sebastián nur wenige, ganz wenige, die dem alltagspräsenten Terror der ETA die Stirn zu bieten wagten. Und sogar noch 2006, als ich die Stadt zum ersten Mal besuchte, musste eine demokratische Aktivistin und Intellektuelle wie Maite Pagazaurtundua unter Polizeischutz ins idyllische Strandhotel „Londres y Inglaterra“ kommen, wo wir dann von der Terrasse aus über den Atlantik sahen, englischen Tee tranken und über die beinahe archaische, allumfassende Angst und das Schweigen in der baskischen Gesellschaft sprachen. 
"Wo bleiben eigentlich all diese Künstler, wenn man sie mal braucht?", fragte Maite mit leiser, beinahe ironischer Verwunderung in der Stimme. Die separatistischen Linksfaschisten der ETA hatten ihren Bruder erschossen – einen von achthundert seit dem Ende der Franco-Diktatur. Achthundert Tote, viele davon im sich wegduckenden San Sebastián, Partnerstadt von Wrocław! 

Ich erinnere mich an Maites ruhiges Atmen und an ihre zusammengepressten Hände, aber auch an den Heavy Metal-Lärm in den abendlichen Altstadtgassen der Stadt, in deren Bars die Bilder rechtsstaatlich verurteilter ETA-Mörder hingen – als Ikonen, denen zugeprostet wurde. Aber auch an das vitale Lachen meines alten Freundes Fernando Savater denke ich. 1947 in San Sebastián geboren, als Franco-Kritiker mit Lehrverbot belegt und seither als Philosoph und Schriftsteller in Madrid lebend, hatte er – ebenso wie Maite und die ETA-Gegner von „Basta Ya!“ ("Es reicht!") – noch bis vor kurzem Polizeischutz benötigt, an der Rezeption in einem Apartmenthaus, wo der Name der Familie Savater aus Sicherheitsgründen nicht auf dem Klingelschild stand. Aber Fernandos Humor, seine souveräne Verachtung der nationalistischen Mörderbande, sein Interesse für die osteuropäischen Dissidenten von einst und die kubanischen und chinesischen Oppositionellen von heute, seine Elogen auf die wunderbaren Kollegen André Glucksmann, Mario Vargas Llosa, Adam Michnik!
Müssten weltoffene, Weltoffenheit verteidigende Menschen wie Maite und  Fernando, in Spanien feste Größen im intellektuellen Diskurs, nicht ganz selbstverständlich zu Berliner oder Wrocławer Tagungen und Kongressen eingeladen werden, auf dass die Hiesigen wenigstens ansatzweise erahnen könnten, dass es auf dieser Erde auch noch anderes gibt als ihren ewigen Mauerfall und Solidarnosc und „deutsch-polnische Differenzen"? 
Aber vielleicht ist das ja die falsche Frage und unterschätzt die bornierte Selbstbezogenheit so zahlreicher deutscher, aber auch polnischer  Experten, die nur ihr je eigenes Terrain beackern und eben nicht quer durch Europa schauen, dem eigenen intellektuellen Anspruch also nicht gerecht werden. (EU-Förderungsgelder sind dennoch zum Abgreifen immer willkommen.)

Mit diesen Gedanken saß ich am Wochenende nahe der Jahrhunderthalle im lauschigen Garten einer wunderbaren alten Villa, die das dreitägige Kulturfestival BASK 2016 beherbergt. 



Man konnte Drinks und Happen aus der baskischen Küche probieren, der gekonnten Performance einer aus Bilbao stammenden Künstlerin beiwohnen, zwischen Liegestühlen umhergehen oder in den Etagen der Villa Fotos und Videos betrachten. Alles sehr schön. 



Perfekt und stimmig gemacht, baskische Künstler eingeladen und sogar ein großformatiges polnisch-englisches Programmheft  gestaltet – all dies unter der Ägide von „Artist-in-Residence-Programme A-i-R WRO“ (das hiermit, wie bei solchen Texten offiziell erwünscht, auch mit gebührendem Respekt erwähnt sei.)  Sehr schön. 



Und vielleicht ja  wirklich nur meine Schuld, wenn ich irgendwann, in einem der oberen, wie verwunschenen Räume, im Geiste plötzlich Fernando Savaters wuchtige Sanguiniker-Gestalt auftauchen sehe und feinziselierten Spott von sich geben höre. „Laut Walter Benjamin ist Kommunismus ‚die Politisierung des Ästhetischen‘, Faschismus dagegen ‚die Ästhetisierung des Politischen‘. Und der gegenwärtige Kultur-Zirkus, den Benjamin natürlich nicht voraussehen konnte? Wahrscheinlich die Ästhetisierung des Apolitischen. Haha!“) Dennoch keine Kritik an diesem sensibel erarbeiteten Programm, das ja immerhin ein freundliches, nicht-nationalistisches Baskenland zeigt. Ganz ohne ETA. Ganz ohne deren Opfer. Vielleicht muss „Kultur“ ja so sein. Vielleicht wird in den begleitenden Workshops, in denen sich „cultural managers and experts“ treffen, um „to interpret Basque culture, its contradictions and mysteries, using various educational and artistic tools“ – vielleicht wird ja genau dort diese entsetzliche Leerstelle mit gesellschaftlicher Relevanz gefüllt. Das wäre ebenfalls schön.



Doch was ich vor allem höre/was ich erinnere, ist das beredte Schweigen und die Einsamkeit von Maite Pagazaurtundua. Und was ich spüre an diesem gelassenen, vergesslichen Sommerabend in Wrocław, ist vor allem Traurigkeit. Gleichzeitig: Was für freundliche, zivile, angenehme, gegenwarts-tüchtige Leute wuseln um einen herum! Bleibt also wohl dennoch die realistische Hoffnung, dass das verdienstvolle Wrocławer Künstlerprogramm, das bereits seit drei Jahren baskische Kreative einlädt, auch den Erzsympathischen dieses Wochenendes Energie gibt, in San Sebastián subversiv Position zu beziehen. Auf dass sich Menschen wie Maite und zahllose, tausende Andere nie mehr so derart allein gelassen fühlen müssen.
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